«regioS»: Herr Müller-Jentsch, für Ihre Studie haben Sie im Berggebiet viele Gespräche geführt. Was haben Sie für einen Eindruck gewonnen?
Daniel Müller-Jentsch: Die Situation ist ernst. Der Strukturwandel im Tourismus trifft eine Branche, die für viele alpine Regionen systemrelevant ist. Die Wasserkraft kämpft mit Problemen, der Zweitwohnungssektor befindet sich im Umbruch. Es bedarf daher Strategien für die Erschliessung neuer Wertschöpfungsquellen.
Herr Ramming, wie dramatisch ist die Situation?
Fadri Ramming: Die Situation ist sehr anspruchsvoll, aber nicht dramatisch. Seit unserer Analyse im Jahr 2014 haben sich zwei Aspekte akzentuiert: die Dynamik der Entwicklungen und die Kumulierung der Problemfelder. Der Frankenschock, die Zweitwohnungsinitiative, die Marktsituation der Wasserkraft und die neuen Regulatorien zum internationalen Datenaustausch im Steuerbereich ergeben zusammen einen giftigen Cocktail. Derzeit haben wir genug damit zu tun, diese Entwicklungen zu stabilisieren.
Müller-Jentsch: Meist ist Strukturwandel ein langwieriger, schleichender Prozess. Jetzt aber sehen wir Beschleunigungsfaktoren. In diesem Anpassungsprozess drohen auch gesunde Strukturen in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Es herrscht ein grosser Bedarf an neuen Ideen und strategischen Standortbestimmungen, nicht nur im Tourismus. Aber wir spüren auch die Bereitschaft der beteiligten Akteure, Reformen anzupacken.
Hat man nicht auch zu lange an gewissen kritischen Geschäftsmodellen festgehalten und verpasst, sie mit neuen Geschäftsfeldern zu ergänzen?
Ramming: Beim Tourismus sind die Strukturen anzupassen, und die Vermarktung ist zu verbessern. Teilweise fehlte es auch an Weitsicht und Innovationsbereitschaft. Die Bereitschaft, neue Chancen zu erkennen, ist aber vorhanden, gerade auch bei der jüngeren Unternehmergeneration. Hinzu kommen ein Rückbesinnen auf regionale Produkte und die Möglichkeit, diese über das Internet zu vermarkten. Man kann aber noch so innovativ sein, am Schluss muss der Unternehmer rechnen.
Müller-Jentsch: Zum Teil wurde man kalt erwischt. Noch vor kurzem erwarteten selbst Experten, dass die Wasserkraft von der Energiewende profitiert. Auch die Zweitwohnungsinitiative war ein Schock – den man allerdings hätte vermeiden können. In diesem Bereich gab es massive Fehlentwicklungen, aber man hat die kritischen Stimmen einfach ignoriert.
Ramming: Gewiss gab es Exzesse in Teilen des Berggebietes. Im Mittelland entdecken Sie aber genauso raumplanerische Sünden. Die Zweitwohnungsinitiative, die ja vor allem das Berggebiet trifft, ist in gewisser Weise auch ein Ausdruck der Vorstellung einer «romantischen» und heilen Welt. Stattdessen wäre aber eine ehrliche Diskussion nötig, welche Bedeutung das Berggebiet für die Schweiz hat, haben kann und soll. Im Umgang mit der Politik für die ländlichen Räume und Berggebiete tut sich der Bund aber schwer. Die Umsetzung der Motion Maissen erfolgte lustlos. Entsprechend dürftig ist das Ergebnis.
Weshalb wird diese Diskussion nicht geführt?
Ramming: Das Verständnis zwischen den Landesteilen erodiert immer mehr. Die Kenntnisse über das Berggebiet sind selbst in der Bundesverwaltung teilweise erschreckend gering. Frühere Faktoren, die das gegenseitige Verständnis zwischen den Landesteilen förderten, sind weggefallen: der Militärdienst, das Welschlandjahr, die Ferienlager usw. Militärdienstleistende und Jugendliche konnten einen Bezug zum Berggebiet aufbauen.
Wo könnte heute der Diskurs über die Rolle des Berggebietes konkret stattfinden?
Müller-Jentsch: Ich sehe eine grosse Chance in einer stärkeren Einbindung der Zweitwohnungsbesitzer. Mehr als eine Million Menschen kommen durch Zweitwohnungen regelmässig ins Berggebiet. Diese Personen haben ein wirtschaftliches Interesse an einer gedeihlichen Entwicklung des Berggebiets, denn sie haben dort viel Geld investiert. Zudem verfügen manche von ihnen über alles, was man für die Bewältigung des Strukturwandels benötigt: Kapital, Know-how, gute Kontakte, Ideen. Die Leute engagieren sich auch heute schon. Es gibt Gemeinden, wo es einen guten Dialog gibt, und andere, in denen man kaum miteinander spricht.
Da braucht es doch noch einen Kulturwandel.
Ramming: Viele Zweitwohnungsbesitzer haben eine emotionale Bindung zum Berggebiet; hier bietet sich tatsächlich noch ein Potenzial. Wie das aber am besten erschlossen wird, da gibt es kein Patentrezept. Derzeit werden in diversen Orten unterschiedliche Ansätze gewählt. Es erweist sich als anspruchsvoll, Personen ohne Wohnsitzstatus in die politische Entscheidungsfindung mit einzubeziehen.
Müller-Jentsch: Aber es ist weder angemessen noch vernünftig, sie zu ignorieren. Denkbar wäre die Einbindung in Milizämter oder ein Rat der Zweitwohnungsbesitzer auf Gemeindeebene. Dadurch könnte man von ihren Ideen profitieren. Denkbar wäre auch ein institutionalisiertes Relationship-Management, analog zu den Alumni-Beauftragten an den Hochschulen.
Ramming: Ich stehe diesen Vorschlägen grundsätzlich offen gegenüber. Doch letztlich treffen zwei Welten aufeinander: Die eine ist die Welt der Sehnsüchte, der Ferien und Ruhe und der intakten Natur, die andere die Welt der Einheimischen; da wird gearbeitet, gebaut und gelebt, da ist Betrieb. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist nicht einfach.
Wie lässt sich dies fördern?
Müller-Jentsch: Mir scheint es eine zu negative Sicht auf eine räumliche Arbeitsteilung, von der beide Seiten profitieren. Das Berggebiet erbringt Dienstleistungen für die städtischen Gebiete um Mailand, München sowie die Agglomerationen des Mittellandes. Die Akteure des Berggebietes müssen sich bewusst sein, dass das wirtschaftliche Potenzial gerade auch im Schutz bestimmter Landschaften und Siedlungsbilder liegt. In den urbanen Gebieten sind auch viele Bausünden begangen worden. Nur leben diese Gemeinden nicht von intakten Orts- und Landschaftsbildern als touristischem Kapital.
Ramming: Ich plädiere nicht für ein Laissez-faire. Strukturwandel hat aber auch mit Entwicklung zu tun. Dazu benötigt es mehr Spielraum für lokale Interessenabwägungen. Allzu viel wurde national ziemlich starr festgenagelt. Das hemmt die Entwicklung im Berggebiet, auch dort, wo sie vernünftig und machbar wäre.
Gibt es denn eine konkrete Vorstellung, was man will? Dann kann man vielleicht auch über Spielräume diskutieren.
Müller-Jentsch: Zentral ist die Frage, wie sich die Strategiefähigkeit im Berggebiet stärken lässt. Regionale Entwicklung hat viel mit Kooperation unter den Akteuren zu tun. Erfolgreich sind jene Standorte, die begriffen haben, dass sie alle im gleichen Boot sitzen. Ein positiver Trend sind in diesem Zusammenhang die Talschaftsfusionen, von denen es seit der Jahrtausendwende zahlreiche gegeben hat. Dadurch werden Kräfte gebündelt und politische Strukturen entlang funktionaler Räume neu geordnet.
Ramming: In Graubünden sind die Talschaftsfusionen sehr ausgeprägt. Auch im Wallis erfolgten über 20 Gemeindefusionen. In Glarus gibt es nur noch drei Gemeinden. Diese Entwicklung ist also in vollem Gang. Bei einer Zentralisierung nimmt allerdings die Mitwirkung bei politischen Prozessen oft ab, dafür steigt bei Talschaftsfusionen die Identifikation mit dem Tal. Wichtig ist zudem der richtige Bezugsrahmen: In den grossen Talböden besteht ein starker Bezug zum Städtenetz Schweiz, das vom Mittelland ins Berggebiet hineinreicht. Daraus leiten sich Dringlichkeiten der inneralpinen Vernetzung sowie der Stärkung der Wirtschaftsstandorte im Berggebiet ab.
Müller-Jentsch: Die durchschnittliche Talgemeinde hat 3500 Einwohner, was immer noch sehr klein ist. Wichtig ist daher auch die Kooperation auf regionaler Ebene. Beim Übergang zur Neuen Regionalpolitik entwickelten die Kantone unterschiedliche regionale Strukturen. In einigen Fällen scheint das gut zu funktionieren und es können Projekte konzipiert und umgesetzt werden, die die ganze Region voranbringen. In anderen Regionen ist die regionale Ebene nicht sehr wirkungsvoll organisiert. Hier scheint es dringend geboten, mal eine Best-Practice-Analyse zu machen. Für die Zukunft des Berggebietes sind Strukturfragen entscheidend. Wir müssen davon wegkommen, primär über Wasserzinsen und föderale Transfers zu reden.
Ramming: Die Wasserkraft war bisher keine Transferangelegenheit und kam ohne Subventionen aus. Wenn die Wasserkraft aber aufgrund fragwürdiger energiepolitischer Entwicklungen Rentabilitätsprobleme hat, dann stehen wir auf die Hinterbeine. Da geht es nicht um Peanuts. Viele touristische Einrichtungen existieren nur dank der Einnahmen aus der Wasserkraft. Derart wichtige Zusammenhänge sollten nicht vergessen gehen.
Dieses Interview wurde von Urs Steiger und Lukas Denzler geführt und erschien in der Ausgabe 12/2017 des Magazins «regioS». Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.