Künstliche Intelligenz (KI) hat das Potenzial, die Arbeitswelt stark zu verändern. Fallstudien zeigen, dass KI-Anwendungen, darunter die neuesten Large-Language-Modelle, die Produktivität in Berufen wie dem Kundendienst und der Unternehmensberatung erheblich steigern können. Diese Einschätzung scheinen auch die Schweizer Unternehmen zu teilen. Die Investitionen für Informatik, Kommunikation und Technologie machen jedenfalls bereits 30 Prozent aller Ausrüstungsinvestitionen der Schweizer Unternehmen aus – das ist mehr als während der Dotcom-Blase.

Zwei Dimensionen der KI

Noch ist unklar, ob sich die in den Fallstudien beobachtete Produktivitätssteigerung auf andere Bereiche übertragen lässt. Die aufgeführten Beispiele mögen sich auf Tätigkeiten beschränken, die vergleichsweise einfach durch KI übernommen werden können. Um Aussagen auch für andere Berufsgruppen zu machen, haben Wirtschaftswissenschafter nun Modelle entwickelt, die eine systematische Analyse erlauben. Obwohl sich der Einfluss der KI mit all ihren Rückkoppelungen auf die Arbeitswelt letztlich mit keiner Methode zuverlässig vorhersagen lässt, ermöglichen die Modelle zumindest eine Momentaufnahme der weitreichenden Auswirkungen.

In einem ersten Schritt unserer Analyse bestimmen wir die grundlegenden Fähigkeiten, die heute zur Ausübung der gängigen Berufe notwendig sind. Was muss ein Call-Center-Mitarbeiter können, was eine Zahnärztin? In einem zweiten Schritt lässt sich schätzen, inwiefern diese Bündel an Fähigkeiten einem Substitutionsrisiko ausgesetzt sind, oder ob sie eher von den KI-Anwendungen ergänzt werden.

Mit diesem Ansatz messen wir den Einfluss der KI-Anwendungen auf die Berufe, welche die Erwerbstätigen in der Schweiz ausüben. Wir unterscheiden zwischen zwei Dimensionen, die in der Box am Ende des Beitrags noch ausführlicher erläutert werden:

  1. Betroffenheit: Wie stark ist ein Beruf potenziell von KI betroffen, d.h. wie umfassend werden die dafür notwendigen Fähigkeiten von KI tangiert? Je höher der damit verbundene Exposure-Score, desto grösser ist die attestierte Wirkung von KI auf den jeweiligen Beruf. Allerdings differenziert die Kennzahl nicht nach der Wirkungsweise der KI: Ob einzelne KI-Anwendungen die Fähigkeit des Berufstätigen eher substituieren oder komplementieren, lässt sich anhand dieses Masses nicht sagen. Für eine solche Einschätzung muss die zweite Dimension der Komplementarität herbeigezogen werden.
  2. Komplementarität: Werden substitutive oder komplementäre Effekte von KI erwartet, d.h. werden die Erwerbstätigen in einem Beruf bei ihren Arbeitsinhalten durch KI eher unterstützt oder konkurrenziert? Je höher der Komplementarität-Score, umso eher könnte sich KI unterstützend auf den Beruf auswirken.

Profitierende, begünstigte und wenig tangierte Berufe

Anhand der Exposure- und Komplementarität-Scores lassen sich vier «KI-Quadranten» bilden, in denen die Berufe – oder Berufscluster – verortet werden können:

  • Profitierende Berufe (1. Quadrant): Richter und Anwälte verzeichnen überdurchschnittliche Exposure- und Komplementarität-Scores. KI-Anwendungen decken die Fähigkeiten der Erwerbstätigen vermehrt ab, gleichzeitig weist die Technologie aufgrund der Arbeitsinhalte eine komplementäre Wirkung auf. Erwerbstätige in diesem Quadranten profitieren von Produktivitätsvorteilen. 
  • Begünstigte Berufe (2. Quadrant): Polizisten haben einen unterdurchschnittlichen Exposure-Score, so dass ihre Fähigkeiten weniger von KI tangiert werden. Gleichzeitig ist ihr Komplementarität-Score überdurchschnittlich, wodurch sich KI durchaus unterstützend auf ihre Arbeit auswirken kann.
  • Wenig tangierte Berufe (3. Quadrant): Coiffeurs sind relativ betrachtet wenig von KI betroffen. Sie weisen unterdurchschnittliche Exposure- und Komplementarität-Scores auf. Folglich treten sie nicht in einen direkten Wettbewerb mit der KI, können diese aber auch nicht zum eigenen Vorteil nutzen.
  • Gefährdete Berufe (4. Quadrant): Call-Center Mitarbeiter sind in ihren Fähigkeiten stärker von KI-Anwendungen tangiert, können bei ihrer Arbeit allerdings nur einen geringen Nutzen aus KI ziehen. Es ist denkbar, dass KI die Erwerbstätigen in dieser Gruppe direkt konkurrenziert.

Wie relevant die KI-Fortschritte für den Schweizer Arbeitsmarkt sind, hängt entscheidend davon ab, wie sich die Arbeitskräfte in den beschriebenen zwei Dimensionen positionieren. Wir wenden daher die Exposure- und Komplementarität-Scores auf eine repräsentative Stichprobe der Schweizer Erwerbstätigen an. Grundlage dafür ist die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (Sake).

In der Abbildung ist zu erkennen, dass Führungskräfte und Lehrpersonen ebenso von den Fortschritten der KI profitieren wie Natur-, Sozial- und Rechtswissenschaftler. Für Erwerbstätige mit akademischem Hintergrund ist jedoch der Übergang von einem produktivitätssteigernden, ergänzenden Einsatz der KI zu einem konkurrenzierenden Verhältnis fliessend. Betriebswirtschafter und Kommunikationsfachkräfte dürften beispielsweise eher zur Gruppe der von KI gefährdeten Berufe gehören. Ihre Arbeit setzt sich folglich tendenziell aus Aufgaben zusammen, die man an die KI delegieren könnte.

Die Gruppen der «wenig Tangierten» und der «Begünstigten» – und somit die Gruppe jener Berufe, die einen Exposure-Score unterhalb des Medianwerts aufweisen – sind hingegen sehr heterogen zusammengesetzt. Elektriker und Sicherheitskräfte zählen ebenso dazu wie Ingenieure und akademische Gesundheitsberufe (Apotheker, Ärzte). Gerade diese Berufsgruppe weist einen der höchsten Komplementarität-Scores auf, liegt aber bezüglich Exposure genau im Durchschnitt aller Berufe.

Betrachtet man weitere Berufshauptgruppen, fällt auf, dass Hilfsarbeitskräfte und gering Qualifizierte vergleichsweise wenig vom Potenzial (und Risiko) der KI profitieren dürften. Gewinner sind die Führungskräfte (90% von ihnen sind im 1. Quadranten angesiedelt), während auf der anderen Seite 80 Prozent der Bürokräfte potenziell durch KI konkurrenziert werden. In absoluten Zahlen sind es somit gesamthaft 490’000 Büroarbeitskräfte, die zur KI in ein direktes Wettbewerbsverhältnis geraten könnten. Dies gilt besonders für Bürokräfte ohne fachliche Vertiefung. Das sind rund 380’000 Erwerbstätige.

Nach dieser Tour d’Horizon gehen wir im zweiten Teil des Blogs der Frage nach, welchen Einfluss Bildung, Geschlecht oder Alter eines Erwerbstätigen darauf haben, ob die KI als Unterstützung oder neue Konkurrenz wirkt. Abschliessend wenden wir uns der Rolle des Staates bei diesem Aspekt des Strukturwandels auf dem Arbeitsmarkt zu.

Methodik

Die Messung der Betroffenheit
Für die Messung der Betroffenheit (Exposure) greifen wir auf Einschätzungen einer Gruppe von US-Ökonomen der Universität Princeton und der New York University zurück (Felten et al., 2021). Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist die Erkenntnis, dass zur Ausübung eines Berufes ein bestimmtes Bündel an Fähigkeiten notwendig ist, also ein Mix aus kognitiven, manuellen und sozialen Kompetenzen. In einem weiteren Schritt wird beurteilt, inwiefern KI-Anwendungen heute in der Lage sind, solche Fähigkeiten abzudecken. Beispielweise wird für die Sicht auf nahe und weite Distanz bestimmt, ob KI-Anwendungen aus dem Bereich der Bilderkennung die menschlichen Fähigkeiten abdecken können. Die Summe der bewerteten Fähigkeiten ergibt den berufsspezifischen Exposure-Score.

Die Messung der Komplementarität
Für die Messung der Komplementarität werden die berufsspezifischen Arbeitsinhalte berücksichtigt (Pizzinelli et al., 2023). Mit den Arbeitsinhalten («work context») sind die physischen und sozialen Bedingungen gemeint, in denen ein Beruf ausgeübt wird. Diese sind dafür bestimmend, ob KI menschliche Supervision benötigt. Muss die KI überwacht werden, kann sie nur ergänzend wirken. Dies wird beispielsweise dann der Fall sein, wenn Fehlentscheidungen grosse Konsequenzen haben, welche die Gesundheit und Sicherheit anderer Personen gefährden könnten, oder wenn der Beruf einen persönlichen Austausch verlangt. Auch wenn man solche sensiblen Entscheidungen (noch) nicht vollkommen an die KI delegieren möchte, kann die Technologie den menschlichen Entscheidungsträger dennoch unterstützen, beispielsweise indem sie zusätzliche Informationen liefert, um Fehler zu vermeiden, oder alternative Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigt. Ist ein Beruf stark von diesen Arbeitsinhalten geprägt, geht man von einer komplementären Wirkung der KI auf den Beruf aus, nicht einer substitutiven. Die Komplementarität ist weitgehend unabhängig davon, inwiefern der Beruf gegenüber den Entwicklungen der KI-Technologie exponiert ist.

Felten et al. (2021) und Pizzinelli et al. (2023) verwenden für die Festlegung ihrer Scores die vom amerikanischen Arbeitsministerium geführte O*NET- Datenbank. Diese wird häufig in der Arbeitsmarktökonomie verwendet, um den beruflichen Arbeits- oder Aufgabeninhalt zu messen.

Teil 2: Flexibilität ist auch in Zeiten von KI Trumpf