Die Schweizer wohnen weder wegen besonders hohen Preisen, noch wegen der fehlenden Kaufkraft des Mittelstandes zur Miete. Die Hauptgründe sind vielmehr die vergleichsweise starke Verstädterung, die späte Einführung des Stockwerkeigentums sowie der massvoll regulierte Wohnungsmarkt.
Trotz dem Boom des Wohneigentums ist die Schweiz noch immer ein Volk von Mietern. Dieses Bonmot lässt sich statistisch belegen: Mit geschätzten 62% ist der Anteil der Mietshaushalte in der Schweiz der höchste in Europa. Das zweitletzte Land – Deutschland – kommt auf 48%. In Südosteuropa beträgt die Quote nicht einmal 10%.
Dass ein so reiches Land überwiegend zu Miete wohnt, verwundert. Eine schlüssige Erklärung des Phänomens steht bis heute aus. Dafür kursieren viele Vermutungen und Thesen. Die geläufigsten sind aber nicht die überzeugendsten. Die folgenden zwei gehören ins Reich der Mythen:
- Boden ist in der Schweiz knapp, und die Immobilienpreise sind hoch. Eigentum ist deshalb für viele unerschwinglich. Falsch. Der knappe Boden verteuert Kaufpreise und Mieten. Die Entscheidung zwischen Kauf und Miete bleibt davon unberührt.
- Der Mittelstand kann sich Wohneigentum nicht mehr leisten, denn er verliert laufend an Kaufkraft. Falsch. Im Unterschied zu vielen Ländern musste der Mittelstand hierzulande keine Kaufkrafteinbusse hinnehmen. Ausserhalb der Städte sind die Preise kaum stärker gestiegen als die Löhne.
Weiter gibt es Thesen, die vielleicht nicht ganz falsch sind, deren Wahrheitsgehalt aber unklar bleibt:
- Pensionskassen sind in der Schweiz wichtige Investoren, die laufend neues Angebot an Mietwohnungen produzieren. Unklar. Die Frage ist, wie die Spargelder der 2. Säule investiert worden wären, wenn es keine Pensionskassen gäbe. Möglicherweise wären sie genauso in den Immobilienmarkt geflossen.
- Die Kreditvergabepolitik der Banken ist restriktiver als im Ausland. Viele Haushalte haben keinen Zugang zu Hypotheken. Unklar. Zwar sind die Vergabekriterien oft strenger als im Ausland, dafür sind Schweizer Haushalte im Schnitt vermögender. Zudem kann das Vermögen der 2. Säule für Immobilien “liquid” gemacht werden.
- Den Schweizern ist Mieten lieber als Kaufen. Unklar bis dubios. Letztlich ist das kein Argument, sondern ein eher hilfloser Erklärungsversuch über angebliche Vorlieben.
- Die Schweizer sind mobil, sie möchten sich darum nicht fest binden und bleiben Mieter. Unklar. Der flexible Schweizer Arbeitsmarkt führt zwar zu vielen Stellenwechseln. Dies ist ein Grund, als Mieter räumlich mobil zu bleiben. Umgekehrt sind die Schweizer deshalb beruflich flexibel, weil sie zur Miete wohnen. Ursache und Wirkung sind nicht voneinander zu trennen.
Und nun zu den Thesen, die zutreffen:
- Die Schweiz ist vergleichsweise stark verstädtert, deshalb ist das Einfamilienhaus als typische Eigentumsform eher rar. Richtig. 75% der Bevölkerung wohnen in den Agglomerationen. Im urbanen Gebiet sind das Mehrfamilienhaus und die Mietwohnung die natürliche Gebäudeform.
- Stockwerkeigentum wurde in der Schweiz spät eingeführt. Dies wirkt bis heute nach. Richtig. Die Rechtssicherheit von Stockwerkeigentum erschien in der Schweiz lange nicht gegeben, die neue Eigentumsform wurde erst 1965 eingeführt. Weil ein Mietshaus in der Regel als Neubau oder nach einem Totalumbau in Eigentumswohnungen aufgeteilt wird, sind die Auswirkungen der späten Einführung bis heute spürbar.
- Eigentum wird in der Schweiz steuerlich nicht gefördert und ist darum weniger verbreitet. Richtig. Die Schweiz kennt kein Bausparen und andere Subventionen für den Erwerb von Wohneigentum. Sie besteuert sowohl die Eigenmiete als auch Mieteinnahmen aus Renditeobjekten. Insgesamt setzt sie neutrale Anreize bezüglich der Eigentumsform. Das ist richtig, denn es gibt keinen plausiblen Grund, warum der Staat eine Eigentumsform bevorzugen sollte.
- Der hiesige Mietwohnungsmarkt ist vergleichsweise massvoll reguliert. Man findet deshalb Mietwohnungen guter Qualität. Richtig. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um das wichtigste Argument. Etliche Länder haben die guten Mietwohnungen mit überzogenen Regulierungen aus dem Markt gedrückt. Eine Überregulierung des Mietmarktes ist die effektivste Eigentumsförderung.
Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 30.10.2015.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.