«Wer regiert die Schweiz?» Diese zeitlose Frage ist der Titel von gleich zwei Büchern, die – entsprechend ihrem Erscheinungsdatum – sehr unterschiedliche Antworten darauf geben. Der Inlandredaktor des «Tages-Anzeigers», Hans Tschäni, formulierte 1983 eine vielbeachtete und weitherum akzeptierte These: die Filzokratie, ein Zusammenspiel von Unternehmen, Verbänden, von diesen abhängigen Politikern und dem Militär. In ihrem soeben erschienenen Buch analysieren die Journalisten Matthias Daum, Ralph Pöhner und Peer Teuwsen die politische Schweiz von heute – und kommen zu einer anderen Sicht: Die Mächte von einst hätten an Einfluss verloren und seien zunehmend zersplittert, «atomisiert», worden, während vor allem das Volk an Gewicht zugelegt habe. Und mitunter könnten heute kleine Aktionsgruppen, ja selbst Individuen, mittels Initiativen den Gang der Dinge bestimmen.
An einer von Urs Leuthard moderierten Diskussion im zürcherischen «Kaufleuten» diskutierte neben Peter Bodenmann (Alt-Nationalrat SP) und Michael Hermann (Politologe) auch Avenir-Suisse-Direktor Gerhard Schwarz einige Thesen des Buches. Zwei davon seien hier herausgegriffen:
«Die Schweiz war seit dem 2. Weltkrieg noch nie so unregierbar wie heute.»
Gerhard Schwarz zeigte sich mit dieser Aussage weitestgehend einverstanden: Im Vergleich mit 1983 gebe es tatsächlich eine Atomisierung der Kräfte auf allen Ebenen, in der Politik, in der Wirtschaft, in den Medien. Allerdings sei diese Entwicklung nicht unbedingt beunruhigend; freiheitliche Staaten müssten von unten gelenkt und nicht unbedingt von oben regiert werden. Michael Hermann meinte, die Unregierbarkeit sei nicht spezifisch schweizerisch, sondern ein allgemeiner Trend. Nicht einmal Frau Merkel sei in der Lage, wirklich zu führen. Die Sachzwänge seien stärker. Peter Bodenmann dagegen gab sich fast den ganzen Abend optimistisch, so auch hier. Er empfindet die Schweiz – gemessen an den umliegenden Nachbarländern – immer noch als «äusserst regierbar».
«Mit den Symbolinitiativen wurde die Schweiz, vorher ein Hort der Stabilität, zu einem politischen Flipperkasten.»
1891 benötigte es die Unterschriften von fast 8% der stimmberechtigten Bevölkerung für die Einreichung einer Volksinitiative. Heute genügen 2%. Deshalb können heute viel kleinere Bewegungen als bei der Einführung des Initiativrechts genügend Unterschriften für ihr Anliegen sammeln und dann auch Mehrheiten mobilisieren. Als Beispiel erwähnten die Podiumsteilnehmer die Volksinitiative «Gegen die Abzockerei» (Thomas Minder) oder die Pädophilen-Initiative (Christine Bussat). Auch blosse Symbolinitiativen haben dadurch, darin waren sich alle einig, zugenommen. Hermann vertrat allerdings die Meinung, diese Initiativenflut sei nicht so tragisch und sie lasse sich auch nicht eindämmen. Auch Bodenmann sekundierte: an den Volksrechten könne und dürfe man nicht rütteln. Schwarz betonte demgegenüber, dass die vielen Abstimmungen, auch wenn viele vom Volk dann richtigerweise abgelehnt würden, zu einer enormen Verunsicherung (nicht zuletzt unter Unternehmern und Investoren) führe. Ausserdem sei die Flut so gross, dass sich die Stimmbürger kaum mehr seriös mit den vielen Themen auseinandersetzen könnten. Vor diesem Hintergrund seien höhere Unterschriftenhürden für die Einreichung von Initiativen und Referenden, die immer noch nur halb so hoch wären als vor 100 Jahren, sehr wohl sinnvoll. Auf die Frage von Leuthard, ob es sich hier nicht um eine Beschneidung der Volksrechte handle, entgegnete er – unter Widerspruch von Peter Bodenmann –, dass Interessen, die wirklich vom Volk getragen würden, sich auch bei höheren Unterschriftenhürden durchsetzen liessen. Auf die Frage «Wer regiert die Schweiz?» konnten und wollten weder Autoren noch Podiumsteilnehmer eine abschliessende Antwort geben. Der Charme und die Herausforderung des Systems Schweiz liegt gerade darin, dass es, wie Schwarz auf eine Frage aus dem Publikum sagte, noch mehr Facetten der Macht und der Einflussnahme kennt als andere Länder und dass je nach Thema andere Player die Schweiz «regieren».
Im Buch «Ideen für die Schweiz» (3. Auflage, 2013) plädiert Avenir Suisse unter anderem für eine Verwesentlichung der Volksrechte.