Die Konsumenten bezahlen seit Ausbruch des Ukraine-Krieges gut 50 Prozent mehr für ihren Strom als vorher. Da klingt es erstmals verrückt, wenn es an den Strombörsen immer öfter negative Preise gibt. Wie kann das sein?

Schwemme an Wind- und Solarstrom

An windreichen und sonnigen Tagen ist das Angebot an Strom manchmal so gross, dass es die Nachfrage deutlich übersteigt. Da reicht es nicht einmal, wenn die Produzenten den überschüssigen Strom verschenken – nein, sie bezahlen dem Abnehmer sogar noch Geld. Denn Stromproduktion und -nachfrage müssen immer im Gleichgewicht sein, sonst droht ein Blackout.

Negativ werden die Strompreise deshalb, weil Wind- und Solarstrom nicht steuerbar sind. Wenn viel erneuerbarer Strom ins Netz kommt, ist es für Betreiber von Braunkohle- oder Kernkraftwerken meist teuer, ihre Werke ab- und wieder anzuschalten. Stattdessen zahlen sie den Abnehmern lieber etwas. Und gerade in Deutschland haben die Betreiber von Windfarmen oder Solaranlagen oft keine Motivation, sich der Nachfrage anzupassen, weil sie von festen Vergütungen profitieren (vgl. Box).

Bereits 165 Stunden mit Negativpreisen

Negative Preise häufen sich, weil in europäischen Ländern immer mehr Wind- und Solaranlagen gebaut werden. In der Schweiz dürfte der Solarstrom im laufenden Jahr etwa zehn Prozent zur Stromproduktion beitragen. Dieser Anteil soll rasch steigen. Da die Grosswetterlage bei uns und in den Nachbarländern ähnlich ist, schiesst an sonnigen Tagen das Angebot in die Höhe. Negative Preise gab es bisher vor allem an nachfrageschwachen Wochenenden, neuerdings vereinzelt auch unter der Woche.

Von Januar bis Juni 2024 gab es in der Schweiz bereits 165 Stunden mit negativen Spotmarktpreisen. Das sind mehr als doppelt so viele wie im bisherigen Rekordjahr 2023. Zudem fielen die 76 Stunden über zwölf Monate an – jetzt sind es schon im Halbjahr doppelt so viele. Ebenfalls viele Stunden mit negativen Preisen gab es 2020 – damals lief aber die Wirtschaft wegen der Corona-Pandemie auf Sparflamme. Ist nun die Zunahme der Negativpreise Grund zur Sorge?

Das Bundesamt für Energie (BfE) meint nicht. So schrieb das BfE 2021 in einer Analyse: «Negative Stundenpreise am kurzfristigen Strommarkt sind kein Grund zur Sorge. Es ist ein notwendiger Marktmechanismus, um sicherzustellen, dass die Stromnachfrage dem Angebot zu jeder Zeit entspricht.» Doch da macht es sich die Behörde etwas zu einfach, weil die negativen Preise in Europa auch das Resultat einer exorbitanten Förderung sind.

Erneuerbare kannibalisieren sich

Wenn die Strompreise immer öfter negativ sind, reduziert dies die Motivation von Investoren, die Elektrizitätsproduktion auszubauen. Die neuen Erneuerbaren kannibalisieren sich: Sie liefern immer mehr Strom im Sommer, wenn dieser wenig nachgefragt wird. Der Preiszerfall führt deshalb dazu, dass der Subventionsbedarf steigt.

Gleichzeitig strahlt das Überangebot aber auch auf Kraftwerksbetreiber aus, die Bandenergie liefern – also Strom, der ständig verfügbar ist, in der Schweiz etwa von Laufwasserkraftwerken und Kernkraftwerken. Über Monate niedrige Preise machen diese Kapazitäten weniger profitabel und reduzieren auch hier den Anreiz, neue Projekte in Angriff zu nehmen (wobei in der Schweiz seit 2017 ein Verbot für neue Kernkraftwerke besteht).

«Produce and forget»

Die negativen Preise in der Schweiz haben viel mit den Vorgängen in unserem Nachbarland zu tun. Deutschland hat riesige Kapazitäten von Wind- und Solarstrom installiert und diese über gut 20 Jahre mit über 300 Milliarden Euro subventioniert. Weil deshalb die Strompreise immer öfter niedrig sind, hat die deutsche Regierung soeben ihre Schätzung für die Förderung im laufenden Jahr um 8,7 Milliarden Euro nach oben korrigieren müssen.

Viele der deutschen Anlagen geniessen noch eine fixe Einspeisevergütung. Zudem muss Strom aus Wind- und Solaranlagen vorrangig ins Netz eingespeist werden. Entsprechend kümmert es die Betreiber dieser Anlagen nicht, wie hoch der Strompreis gerade ist und ob es für ihr Produkt Abnehmer gibt. Als «Produce and forget» (produzieren und vergessen) ist dieses Prinzip im Fachjargon bekannt. Auch in der Schweiz gab es bis 2018 hohe kostendeckende Einspeisevergütungen, die nach diesem Grundsatz funktionierten.

Ohne vollständige Liberalisierung geht es nicht

Welche Anpassungen wären nötig, damit Negativpreise nicht weiter zunehmen und sich der Markt normalisiert? Drei Massnahmen stehen im Vordergrund:

Erstens ist die ziellose Förderung erneuerbarer Energien problematisch. Masse ist auch hier nicht Klasse. Laut einer Studie der eidgenössischen Finanzverwaltung werden 50 Prozent der Fördergelder für Fotovoltaik verschwendet, weil die Hausbesitzer die Anlage auch ohne Subvention gebaut hätten.

Besser als Subventionen wäre ein durchgehender CO2-Preis, der die Position aller kohlenstofffreien Stromarten (Wasser, Wind, Solar, aber auch Kernkraft) gleichermassen stärkt.

Wenn dies politisch nicht machbar ist und man an Subventionen festhält, sollte mit dem Geld wenigstens ein Problem gemindert, statt ein neues geschaffen werden. Ein Bonus für Winterstrom, wie in der Schweiz vorgesehen, geht zumindest die Herausforderung an, dass uns in der kalten Jahreszeit Strom fehlt.

Wichtig ist, zweitens, dass von der Förderung möglichst wenig verzerrende Effekte ausgehen.  Im Stromgesetz, das der Souverän kürzlich angenommen hat, ist eine Mindestvergütung für Hausbesitzer vorgesehen, die ihren Solarstrom ins Netz einspeisen. Dies ist der falsche Weg. Preisgarantien mindern die Motivation, zum Beispiel mit einer Batterie  den selbst produzierten Strom in Zeiten zu speichern, wenn an der Strombörse der Preis sehr niedrig oder negativ ist.

Negativpreise liessen sich zum Vorteil der Konsumenten nutzen, wenn diese in solchen Phasen des Tages ihr Elektroauto laden oder ihre Waschmaschine laufen liessen. Umgekehrt könnte man dem Stromversorger die Möglichkeit einräumen, in der Nacht die geladene Batterie des Elektroautos anzuzapfen.

Dafür braucht es intelligente Stromzähler, mit denen sich der Verbrauch individueller Geräte direkt durch Preissignale steuern lässt, sowie neue, dynamische Preismodelle.

Die Konsumentin sollte deshalb den Stromversorger wählen können, der das für sie passende Modell anbietet. Doch heute sind die Haushalte an ihren Stromversorger geknebelt, was die Innovation bremst. Die Schweiz wäre deshalb, drittens, gut beraten, die Liberalisierung des Strommarktes endlich zu vollenden. Ohne Liberalisierung besteht wenig Hoffnung, dass die Energiewende gelingt.