Wie viel Zuwanderung braucht und will die Schweiz? Diese Frage erlaubt unterschiedliche Perspektiven: Auf der einen Seite besteht ein Arbeitskräftemangel, der sich durch die demografische Alterung weiter zuspitzt. Ohne jegliche Zuwanderung würden im Jahr 2030 rund 800 000 Stellen unbesetzt bleiben. Auf der anderen Seite ist die Diskussion um die 9-Millionen-Schweiz und deren Folgen in Rechnung zu stellen.
Angesichts verstärkt migrationsskeptischer Schlagzeilen ist der Entscheid beider Räte umso erfreulicher, das Ausländergesetz geringfügig zu lockern. Konkret sollen bestehende Hürden bei der Arbeitsmarktzulassung ausländischer Hochschulabgänger abgebaut werden.
Heute schliessen jährlich rund 4000 Studierende aus sogenannten Drittstaaten (Staaten ausserhalb der EU/Efta) ein Studium an einer Schweizer Hochschule ab – mehr als die Hälfte davon in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (Mint). Darunter befinden sich viele Talente, die auf dem Arbeitsmarkt dringend benötigt werden. Doch Bürger von Drittstaaten, die nach dem Studium hierzulande arbeiten wollen, müssen viele Hürden nehmen. Eine Arbeitsbewilligung wird nur dann erteilt, wenn die Erwerbstätigkeit nachweislich von hohem wissenschaftlichem oder wirtschaftlichem Interesse ist. Zudem müssen freie Kontingente vorhanden sein, denn auch Hochschulabgänger sind der Kontingentierung für Drittstaaten-Arbeitskräfte unterstellt.
Diese äusserst aufwändige und von Unsicherheit geprägte Zulassungspraxis führt dazu, dass gerade Startups und KMU gar nicht erst versuchen, Drittstaatentalente zu rekrutieren. Noch fragwürdiger erscheint die Praxis, wenn man bedenkt, dass die Schweiz jedes Jahr rund 200 Mio. Franken in die Ausbildung von Drittstaaten-Studierenden investiert.
Ausnahmen oder Sonderkontingente?
Mit einer Gesetzesänderung soll diese Problematik nun aber entschärft werden: Wer einen Schweizer Hochschulabschluss erlangt, soll in Bereichen mit Fachkräftemangel zukünftig von den Kontingenten ausgenommen werden. Als Zweitrat ist der Ständerat am Montag auf eine entsprechende Vorlage eingetreten. Das Geschäft geht jedoch für die Detailberatung noch einmal zurück an die vorberatende Kommission.
Eine Sonderregelung scheint insofern gerechtfertigt, als es sich um qualifizierte Personen handelt, die über eine mit öffentlichen Geldern finanzierte Schweizer Ausbildung verfügen, bereits einige Zeit in der Schweiz leben und in der Regel gut integriert sind. Schätzungsweise 400–500 Absolventen dürften jährlich davon profitieren.
Dennoch sind verfassungsrechtliche Bedenken nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Bundesverfassung verlangt, die Einwanderung durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente zu begrenzen. Allerdings sieht das Gesetz bereits heute diverse Ausnahmen (z.B. für Ehepartner) vor. Ein allenfalls eleganterer (und verfassungskonformer) Weg wäre, für Hochschulabsolventen separate Sonderkontingente zu schaffen, die mit verschlankten Prozessen unbürokratisch administriert würden.
Zuwanderung aus Drittstaaten neu definieren
Die parlamentarische Vorlage sollte indes auch als erster Schritt dahingehend verstanden werden, die Rolle der Drittstaaten-Migration langfristig zu überdenken. Nicht im Sinne noch höherer Zuwanderungszahlen, sondern als Ersatz versiegender heutiger Fachkräftequellen. Denn nicht nur die Schweiz, auch viele andere (europäische) Länder sind mit einem erheblichen Fachkräftemangel konfrontiert.
Dieser Trend wird sich durch die schrumpfende Zahl von eigenen Hochschulabsolventen noch verstärken. So werden China und Indien im Jahr 2030 schätzungsweise die Hälfte aller 25- bis 34-Jährigen mit Hochschulabschluss stellen, während der Anteil der USA und der EU zusammen nur bei rund 15% zu liegen kommt. Im Mint-Bereich dürften dannzumal sogar rund 60% aller Talente aus China und Indien stammen.
Politisch erscheint es gegenwärtig sinnvoll, das Zuwanderungsregime – wie bei den Hochschulabgängern angedacht – «nur» punktuell zu optimieren. Doch die demografischen Verschiebungen dürften uns langfristig dazu zwingen, verstärkt auf Drittstaaten-Arbeitskräfte zu setzen. Die Schweiz sollte deshalb besser früh als spät darüber nachdenken, wie sie konkret auf rückläufige Migrationszahlen aus Europa reagieren möchte – und muss.