Wir können und wollen sie nicht mehr hören, die Hiobsbotschaften über die Krise in Europa, über Verschuldung und Zinsen, Arbeitslosigkeit und Verarmung. Wir wollen auch nicht ständig zurückblicken und wirtschaftspolitische Sünden auflisten, die begangen wurden, die Zwängerei einer einzigen Währung für einen Raum mit völlig heterogener Finanzpolitik und Konjunkturlage, das verantwortungslose Leben auf Kosten künftiger Generationen, den anmassenden Glauben der Politik, wirtschaftliche Gesetze aus den Angeln heben zu können. Blicken wir also nach vorn und fragen uns, woher in Zukunft das Wachstum kommen soll, ohne das sich die begangenen Fehler nicht aufräumen und korrigieren lassen – schon gar nicht sozialverträglich.
Grundlage des Wachstums
Ein wichtiger Indikator künftiger Wettbewerbskraft sind Patente. Sie legen die Grundlage für Innovationen und Markterfolge, sie verschaffen einem Land und seinen Unternehmen «Renten», die man abschöpfen kann, solange man der Konkurrenz einen Schritt voraus ist. Zwar sind nicht alle Erfindungen patentfähig, und nicht alle patentfähigen Erfindungen werden zum Patent angemeldet, aber Untersuchungen zeigen, dass doch der überwiegende Teil der technischen Erfindungen von Patentanmeldungen erfasst wird. Insofern sind Patente ein recht guter Indikator für den Output der Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen. Gleichzeitig scheinen sie auch ein brauchbarer Indikator für bevorstehende Innovationen zu sein, obschon gemäss einer Untersuchung von Siegfried Greif bei weitem nicht alle Erfindungen – nur etwa 50% – realisiert werden und nicht alle realisierten Erfindungen dann auch zum Markterfolg führen.
Leider bringen die Zahlen zur Innovation wenig Hoffnung für die Länder, die besonders tief im Sumpf der Krise stecken. Sie lassen einzelne andere Länder noch etwas düsterer erscheinen als bisher, und sie unterstreichen einmal mehr die Ausnahmestellung der Schweiz. In der Übersicht über die absolute Zahl der beim Europäischen Patentamt in München (EPO) eingereichten Patente (für das Jahr 2010) tauchen die meisten Krisenstaaten gar nicht bzw. so weit hinten auf, dass sie sich kaum darstellen lassen. Während das an 15. Stelle rangierte Österreich mit 1730 Patentanmeldungen aufwartet, sind es beim mehr als fünfmal so grossen Spanien nur 1436. Irland bringt es doch auf 515 Anmeldungen, Portugal und Griechenland fallen dagegen mit 81 bzw. 85 Anmeldungen in die Kategorie «ferner liefen». Einzig Italien zählt bei Patenten zu den «Grossen», allerdings hinter der Schweiz, den Niederlanden oder Korea und deutlich abgeschlagen gegenüber Deutschland, das fast siebenmal so viele Patentanmeldungen aufweist.
Die Schweiz liegt mit 6742 Anmeldungen an fünfter Stelle, hinter den bevölkerungsmässig und wirtschaftlich viel grösseren Ländern USA, Deutschland, Japan und Frankreich. Noch eindrücklicher ist die schweizerische «Performance», wenn man die Patentanmeldungen pro Kopf der Bevölkerung vergleicht. Hier kommt die Schweiz auf einen gut 12-mal höheren Wert als Italien und einen fast 10-mal so hohen wie Grossbritannien. Sie übertrifft selbst die USA (um den Faktor 7), Frankreich (6) und Japan (5) bei weitem. Länder wie Griechenland oder Portugal bewegen sich auch gemessen an diesem Massstab im Nirgendwo. Mit der Schweiz halbwegs mithalten können nur die Niederlande und Deutschland, doch sogar sie werden von der Schweiz im einen Fall um etwas weniger, im anderen Fall um mehr als 150% übertroffen.
Die Sonderstellung der Schweiz lässt sich weder nur mit der Kleinheit des Landes erklären noch mit branchenspezifischen Eigenheiten, auch nicht nur mit der Tatsache, dass Holdingsitze oft der Bündelung von Patentanmeldungen und Lizenzeinnahmen dienen. Unter den 10 fleissigsten Patentanmeldern aus der Schweiz befindet sich nämlich nur ein Unternehmen, das man als Holding betrachten kann, der Rest sind traditionelle Namen der Schweizer Wirtschaft mit Flaggschiffen wie Roche, Novartis, Nestlé, ABB und Swatch. Ausserdem placieren auch viel breiter abgestützte Indikatoren als die Patentanmeldungen wie der Global-Innovation-Index des «Economist» die Schweiz seit Jahren auf den vordersten Rängen.
Eine sehr gute Ausbeute
Die Ausnahmestellung der Schweiz wird noch ungewöhnlicher, wenn man die Patente in Beziehung setzt zu den staatlichen Forschungs- und Entwicklungsausgaben im engeren Sinne. Die vier Spitzenreiter bei den Patentanmeldungen geben – bezogen auf das Bruttoinlandprodukt – alle das 15-Fache (und mehr) der Schweiz aus, in absoluten Zahlen pro Kopf (zu Kaufkraftparitäten umgerechnet) mindestens das 10-Fache. Man fragt sich, wie das möglich ist. Des Rätsels Lösung findet sich in zwei Richtungen. Zum einen bewegen sich die Ausgaben in der Schweiz, wenn man alle staatlichen Ausgaben einbezieht, die einen Bezug zur Forschung haben, zumal jene für die Universitäten und für Institutionen wie die ETH, pro Kopf der Bevölkerung in der Grössenordnung von 350 Dollar; sie werden nur noch von jenen der USA (450 Dollar) übertroffen. Zum anderen bewahrheitet sich «Von nichts kommt nichts» erst recht, wenn man den privaten Aufwand für Forschung und Entwicklung einbezieht. Dann liegt die Schweiz pro Kopf ganz knapp vor Schweden und den USA an der Spitze. Gleichwohl bleibt es eine Leistung, dass die Schweiz pro Kopf mit dem praktisch gleichen Einsatz mehr als sechsmal so viele Patentanmeldungen «herausholt» wie die USA.
Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. Oktober 2012.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.