Das Telefon klingelt. Sie gehen ran, und plötzlich gilt: scharfer Hausarrest. Persönliche Kontakte sind fortan verboten, und sie dürfen keinen Fuss mehr vor die Türe setzen. Was nach einer Reportage aus einem Unrechtsstaat klingt, ist in den letzten Wochen Zehntausenden von Schweizern passiert. Ein Anruf der Contact Tracer genügt, um jedem in der Schweiz Niedergelassenen bis zu 10 Tagen die Freiheit drastisch einzuschränken. Wer etwas genauer hinschaut: viel zu drastisch.
Demokratisch legitimiert, aber…
Die täglich hunderte Quarantäne-Anordnungen finden nicht ohne Gesetzesgrundlage statt – Verschwörungstheorien sind fehl am Platz. Die Schweiz hat sogar über das Prinzip eines epidemiologisch begründeten Freiheitsentzugs abgestimmt. Vor fast genau sieben Jahren hat der Souverän mit 60% der Stimmen das neue Epidemiengesetz (EpG) angenommen. Die gesetzliche Grundlage für die Quarantäne ist damit nicht nur klar formuliert, sondern auch direktdemokratisch legitimiert.
Das Stimmvolk hat aus gutem Grund dem Epidemiengesetz zugestimmt. Es gibt Situationen, in denen eine strikte Quarantäne angebracht ist und die weitere Verbreitung eines tödlichen Erregers effektiv und effizient stoppen kann. Das Gesetz sieht allerdings verschiedene Massnahmen zur Eindämmung einer Krankheit vor; die Quarantäne ist die schärfste gegen einzelne Personen gerichtete Massnahme. Es ist daher angezeigt, die Verhältnismässigkeit des derzeitigen Quarantäne-Regime zu prüfen. Besonders wenn dabei Grundrechte von vielen Menschen tangiert sind: Seit Beginn der Pandemie mussten bereits Zehntausende von Schweizern in Quarantäne.
Die Quarantäne ist von der Isolation zu unterscheiden
Von Isolation spricht man, wenn jemand positiv auf Covid-19 getestet wurde. Eine Quarantäne trifft hingegen potenziell Infizierte, also Personen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Kontakt mit dem Virus gekommen sind, aber nicht positiv getestet wurden. Sie müssen sich beim derzeitigen Quarantäne-Regime möglichst isolieren und dürfen die eigenen vier Wände bis zu zehn Tage lang nicht mehr verlassen.
Die Abwägung, ob eine Quarantäne verhältnismässig ist oder nicht, kann juristisch oder ökonomisch formuliert werden. Aus juristischer Sicht steht das Recht auf persönliche Freiheit eines potenziell Infizierten in einem Konflikt mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit seiner Mitbürger. Aus ökonomischer Sicht kann die Bewegungsfreiheit eines potenziell Infizierten einen negativen externen Effekt auf die Gesundheit von anderen Menschen haben.
Zwei Faktoren sind zentral
Egal ob man juristisch oder ökonomisch vorgeht, es geht bei der Verhängung und Ausgestaltung einer Quarantäne um eine Abwägung verschiedener Güter, um einen Trade-off. Was wiegt im konkreten Fall stärker: Die individuelle Freiheit oder eine mögliche Weiterverbreitung eines Krankheitserregers? Und: Könnte die Weiterverbreitung auch mit weniger einschneidenden Massnahmen unterbunden werden? Bei der Beantwortung dieser Fragen sind der Übertragungsweg und die Gefährlichkeit des Erregers die beiden wichtigsten Faktoren – wobei beide Faktoren im Verbund wirken müssen.
Zwei Beispiele machen klar, was damit gemeint ist:
- So hat sich das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) in den 1980er Jahren zu einer Pandemie entwickelt. Bisher sind schätzungsweise 32 Mio. Menschen diesem Krankheitserreger zum Opfer gefallen. HIV war zu Beginn der Pandemie ein Todesurteil, das Verhältnis Todesfälle zu nachgewiesenen Infektionen (die Case Fatality Rate, CFR) lag bei 100%.[1] Hätten daher damals alle Infizierten in Quarantäne müssen? Nein, keineswegs. Denn HIV wird im öffentlichen Raum nicht leicht übertragen, die überwiegende Mehrheit der Infektionen findet über Sexualkontakte oder über kontaminierte Spritzen statt. Eine strikte Quarantäne hätte die Verbreitung des tödlichen Erregers zwar eingedämmt, aber sie wäre wegen des Übertragungswegs völlig unverhältnismässig gewesen.
- Auch ein leichter Übertragungsweg allein rechtfertigt derweil noch keine Quarantäne. Ein Beispiel hierfür ist die jährlich wiederkehrende Grippe: Das Influenzavirus kann über eine Tröpfcheninfektion via die Schleimhäute der Atemwege und der Augen in den Körper eindringen. Deshalb finden auch im öffentlichen Raum leicht Infektionen statt. Sollten deshalb alle Menschen mit Grippesymptomen in Quarantäne? Nein, denn das Virus ist dafür zu wenig gefährlich; im Influenza-Pandemieplan des BAG wird mit einer CFR von 0,4% ausgegangen und erwähnt, dass dieser Wert leicht über jenem der normalen saisonalen Grippe liegt. Eine strikte Quarantäne würde wiederum die Übertragung eindämmen, aber sie wäre wegen der Gefährlichkeit des Erregers völlig unverhältnismässig.
Diese beiden Beispiele machen etwas deutlich: Eine rigorose Quarantäne, die konsequent befolgt wird, ist bei einem von Mensch zu Mensch übertragbaren Krankheitserregers immer effektiv – oder «geeignet» im Sinne einer juristischen Verhältnismässigkeitprüfung. Das heisst, sie unterbindet wirksam die Weiterverbreitung. Doch sie ist nur in Ausnahmefällen erforderlich und angemessen. Das heisst, es ist selten jene Massnahme, welche die Kontrolle einer Epidemie mit dem geringsten Schaden für die Gesellschaft erreicht. Eine strikte Quarantäne ist in der Regel nur bei hochansteckenden Erregern mit hoher Sterblichkeit angebracht.
Überschiessendes Quarantäne-Regime
Wie sieht es mit der Verhältnismässigkeit der Quarantäne bei der Covid-19-Pandemie aus? Wer dieser Frage nachgeht, muss als erstes feststellen, dass sie kaum je gestellt wird. In den Schweizer Medien ist die Verhältnismässigkeit des Quarantäne-Regimes kein Thema. Das ist erstaunlich. Gerade die Medien als vierte Macht im Staat sollten genau hinschauen, wenn es um behördlich verordnete Freiheitsbeschränkungen der Bürger geht.
Und eine starke Einschränkung der persönlichen Freiheit stellt der Umgang mit potenziell Infizierten mit Sicherheit dar. Das derzeitige Quarantäne-Regime sieht eine 10-tägige komplette Abschottung vor. Wer mit einer Quarantäne belegt wird, darf in dieser Zeit weder persönliche Kontakte pflegen noch einen Fuss vor die eigene Wohnungstüre setzen – auch nicht mit Schutzmassnahmen.
Dieser schwere Eingriff ist nicht verhältnismässig. Zu diesem Schluss muss kommen, wer wiederum die beiden Faktoren Übertragungsweg und Gefährlichkeit des Erregers analysiert:
- Die Case Fatality Rate (CFR) von Covid-19 lag zu Beginn der Pandemie bei einem hohen einstelligen Prozentsatz. In der Zwischenzeit ist dieser Wert aus verschiedenen Gründen stark gesunken, in einigen Ländern liegt er derzeit weit unter einem Prozent. Dieser Wert ist mit Vorsicht zu interpretieren. Wegen weit verbreiteten Tests dürfte die CFR aber mittlerweile relativ nahe an die tatsächliche Letalität kommen. Das derzeit grassierende Coronavirus ist damit gefährlich, aber weitaus weniger gefährlich als frühere Versionen wie Mers-Cov oder andere Infektionskrankheiten wie Ebola, vor deren Hintergrund der Quarantäne-Artikel des Epidemiengesetzes einst verhandelt wurde.
- Und wie sieht es mit der Übertragung aus? Wenn ein Erreger sehr leicht übertragen werden kann, könnte das Gesundheitswesen rasch an den Anschlag geraten. Eine Überlastung könnte dann wiederum zu einer (allgemein) höheren Sterblichkeit führen und deshalb eine strikte Quarantäne rechtfertigen. Bei Covid-19 ist wie bei anderen Coronaviren die Übertragungsmöglichkeit im öffentlichen Raum gegeben. Allerdings halten verschiedene Untersuchungen fest, dass Infektionen im eigenen Haushalt oder im Büro eine zentrale Rolle bei der Weiterverbreitung einnehmen. Das Risiko, sich draussen im öffentlichen Raum anzustecken, gilt nach aktuellem Kenntnisstand als sehr niedrig.
Gegeben die Verbreitung als auch die Gefährlichkeit von Covid-19 wird deutlich: Der Umgang mit potenziell Infizierten in der Schweiz ist unverhältnismässig. Die Massnahmen sind weder erforderlich noch angemessen.
Es leuchtet nicht ein, weshalb Personen bis zu zehn Tage in ihrer Wohnung festgesetzt werden. Gegeben die Übertragung von Covid-19 spricht beispielsweise kaum etwas gegen Spaziergänge an der frischen Luft. Zudem wären Lockerungen bei Beachtung von Schutzmassnahmen wie dem Tragen von Masken zu erwägen. Mit dem derzeitigen Quarantäne-Regime wird somit das Grundrecht auf persönliche Freiheit über Gebühr beschnitten. Es gäbe offensichtlich weniger einschneidende Massnahmen, um das gleiche Ziel zu erreichen.
Stochern im Dunkeln
Wenn eine Massnahme nicht erforderlich ist, ist damit die Unverhältnismässigkeit bereits belegt. Wäre die Massnahme erforderlich, müsste zusätzlich noch die Angemessenheit geprüft werden. Dabei geht es um die Frage, ob der gesellschaftliche Nutzen den privaten Schaden überwiegt. Neben der bereits erwähnten Gefährlichkeit des Erregers wäre für die Beantwortung dieser Frage vor allem die Zielgenauigkeit relevant: Werden vor allem ansteckende Personen einer freiheitseinschränkenden Massnahmen ausgesetzt oder nicht? Dafür muss man die Frage beantworten, wie viele Menschen in Quarantäne an Covid-19 erkranken. Die Antwort: nicht viele.
So standen am bisherigen Quarantäne-Höhepunkt laut BAG-Wochenbericht über 28’000 Personen unter Quarantäne.[1] In den darauffolgenden zwei Wochen wurden aber je nur rund 2’000 positive Tests gemeldet. Selbst wenn all diese positiven Tests von Personen in Quarantäne stammen würden, wäre die «Trefferquote» der Quarantäne-Massnahme schlecht. Aber bei den positiven Tests finden sich auch noch viele Personen, die vorher gar nicht in Quarantäne waren. Wie gross ist deren Anteil? Wir wissen es nicht, denn dazu gibt es laut BAG keine verlässlichen Daten – man sei daran, eine entsprechende Datenbank aufzubauen. Die Zielgenauigkeit des Schweizer Quarantäne-Regimes kann derzeit mit nationalen Daten nicht exakt definiert werden.[2]
Bereits die Grössenordnungen der Infektions- und Quarantänezahlen zeigen jedoch deutlich, dass in der Schweiz die meisten in Quarantäne steckenden Personen nicht infiziert sind. Das derzeitige Quarantäne-Regime ist also weder erforderlich, gegeben der aktuelle Kenntnisstand zu Covid-19, noch angemessen. Damit ist das Fazit verheerend: Zu viele Personen werden einer zu weitgehenden Freiheitsbeschränkung ausgesetzt.
Wenn der Rückhalt schwindet
Es ist verblüffend, dass das Schweizer Quarantäne-Regime bisher keine hohen Wellen geschlagen hat. Eine öffentliche Debatte ist längst angezeigt. Natürlich sollen potenziell Infizierte ermittelt werden, und diese Personen dürfen dann andere Menschen nicht einem unnötigen Risiko aussetzen. Doch weshalb wird ein scharfer Hausarrest erteilt? Warum wird die Massnahme nicht differenziert, wie es das Gebot der Verhältnismässigkeit verlangen würde? Und weshalb müssen Zehntausende ohne Grund in Quarantäne?
Während diese Fragen in den Medien kaum diskutiert werden, sind sie in der Bevölkerung längst ein Thema. Kein Wunder, bei den hohen Zahlen kennt mittlerweile jeder jemanden, der schon mal für mehrere Tage unter Quarantäne gestellt wurde. So mancher empfindet das Vorgehen der Behörden als zu scharf und zu wenig zielgerichtet. Dieser Unmut wird im persönlichen Umfeld kundgetan – und das bleibt nicht ohne Folgen.
Je illegitimer eine behördliche Massnahme wahrgenommen wird, desto geringer ist die Bereitschaft, ihr Folge zu leisten. Die Menschen beginnen, einzelne Begegnungen den Contact-Tracern zu verschweigen oder Kontaktformulare falsch auszufüllen. Dieses Verhalten ist verständlich, es unterminiert aber die Effektivität der Pandemiebekämpfung als Ganzes.
Rückbesinnung auf Schweizer Stärken
Das Vorgehen gegen Covid-19 im Frühling dieses Jahres hat etwas klar gezeigt: Für eine erfolgreiche Eindämmung braucht es die Bereitschaft der ganzen Bevölkerung. Ohne Eigenverantwortung geht es nicht. Scharfe Massnahmen im Ausland waren meist weniger erfolgreich als die auf Überzeugung und Mitwirkung bauende Strategie der Schweiz.
Einschneidende Eingriffe wie das derzeit praktizierte Quarantäne-Regime mögen den Behörden vielleicht das Gefühl der Sicherheit und Kontrolle geben, langfristig wirken sie aber kontraproduktiv: Sie zersetzen das Vertrauen der Bevölkerung in die Pandemie-Bekämpfung und unterwandern die Kooperationsbereitschaft.
Politik und Behörden sind somit auch aus gesundheitspolitischen Gründen angehalten, Massnahmen verhältnismässig auszugestalten. Das stellt die Test-and-Trace-Strategie nicht grundlegend in Frage. Doch potenziell Infizierte müssen genauer identifiziert werden. Und wie dann mit diesen Personen umgegangen wird, das muss öffentlich neu verhandelt werden.
[1] Dank enormen Fortschritten in der Medizin gilt dieser Wert heute nicht mehr. HIV-Infizierte weisen bei Zugang zu einer modernen Behandlung eine viel geringere Sterblichkeit auf als zu Beginn der Pandemie. [2] Das ist die Summe der Personen in ärztlich verordneter Quarantäne und solchen, die nach einer Einreise aus einem Risikoland in Quarantäne müssen. [3] Informationen auf kantonaler Ebene zu erhalten hat sich als sehr schwierig erwiesen. So wurden beispielsweise zwei Anfang Woche gestellte Anfragen beim Kanton Zürich bis dato nicht beantwortet.