Einmal mehr diskutiert die Schweiz über Zuwanderung, Wirtschaftswachstum und Wohlstand. Kritiker taxieren das Wachstum der letzten Jahre als trügerisch, da es nur «extensiv» in die Breite stattfinde und nicht auf verbesserter Produktivität beruhe. In der Debatte schwingt oft eine gewisse Missbilligung der Zuwanderungspolitik mit. Ein solches Wachstumsregime, das allein darauf beruht, dass immer mehr Arbeitskräfte zuwandern, wäre in der Tat wenig sinnvoll und nachhaltig. Tatsächlich wuchs die Schweizer Bevölkerung seit Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU überdurchschnittlich stark – obschon die Wachstumsraten in den 1950er und 1960er Jahren noch weit höher ausgefallen waren. Doch ist das Wachstum für die ansässige Bevölkerung insgesamt ein Nullsummenspiel? Stagniert das Wohlstandsniveau, weil der laufend grösser werdende «Kuchen» auf immer mehr Köpfe aufgeteilt werden muss? Die vorliegende Blog-Serie soll diesbezüglich einen datenbasierten Diskussionsbeitrag leisten.
Die Analyse ist in drei Teile gegliedert:
- Der erste Teil gibt einen Überblick über das Schweizer Wirtschaftswachstum und zeigt, dass weniger als die Hälfte des BIP-Wachstums seit 2002 eine Mengenausweitung darstellt.
- Als langfristiger Wachstumstreiber wirkt die Arbeitsproduktivität. Der zweite Teil diskutiert im Detail deren Bedeutung.
- Im dritten Teil geht es um die Rolle zweier wichtiger Aspekte in der Wachstumsdebatte: Demografie und Zuwanderung. Zudem wird dargelegt, warum der alleinige BIP-Fokus der wirtschaftlichen Wohlfahrt hierzulande nicht gerecht wird und deshalb zu kurz greift.
Unbestritten ist: Die Schweiz gehört bezüglich ihrer Wirtschaftsleistung pro Einwohner seit langem zur weltweiten Spitzengruppe. Uneinig ist man sich über die jüngste Entwicklung der Wirtschaftsleistung. Diese ist Gegenstand nachfolgender Analyse, wobei das Hauptaugenmerk der Entwicklung seit Inkrafttreten der Bilateralen I 2002 gilt. Das Wirtschaftswachstum wird typischerweise im Rahmen eines internationalen Vergleiches anhand des Bruttoinlandprodukts (BIP) beurteilt. Wir fokussieren im Folgenden auf ausgewählte OECD-Länder mit hohem Pro-Kopf-Einkommen, die aus Schweizer Sicht besonders relevant sind.
Die Schweiz wächst in die Breite…
Abbildung 1 zeigt, warum Ökonomen bis anfangs der 2000er Jahre über eine ausgeprägte Schweizer Wachstumsschwäche debattierten. Nach der Stagnation in den 1990er Jahren nahm die Schweizer Volkswirtschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten wieder Fahrt auf. Insgesamt konnte die Schweiz ihre (preisbereinigte) Wirtschaftsleistung seit 1990 um rund 65% steigern. In der gleichen Periode stieg die Wohnbevölkerung jedoch um über 2 Millionen Menschen (ein Plus von 31%). Damit einher ging ein ähnlich starker Anstieg bei den Erwerbstätigen. Das BIP nahm also auch allein deshalb zu, weil der Arbeitseinsatz (d.h. die Zahl der Erwerbstätigen und die insgesamt geleisteten Arbeitsstunden) anstieg. Für eine Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung ist deshalb eine Pro-Kopf-Betrachtung aussagekräftiger (Abbildung 2).
… aber auch pro Kopf
Seit 2002 stieg das reale BIP um rund 44%. Obschon nicht Spitzenreiter, verzeichnete die Schweiz im selben Zeitraum mit 21% auch in Pro-Kopf-Werten ein ansehnliches Wachstum. Das gibt einen ersten Anhaltspunkt, dass nur rund die Hälfte des Wirtschaftswachstums eine reine Mengenausweitung darstellen dürfte. Mengenausweitung in dem Sinne, dass die zusätzlich hergestellten Güter und Dienstleistungen durch zusätzlichen Arbeitseinsatz zustande kommen. Wirklich geschlagen geben musste sich die Schweiz in dieser Periode nur gegen Schweden und die USA.
Unterteilt man die Entwicklung in unterschiedliche Perioden bis zur Pandemie, zeigt sich etwas klarer, dass die Schweiz – getrieben von der weltwirtschaftlichen Entwicklung und den Bilateralen – anfangs des Jahrtausends überdurchschnittlich stark wuchs (Abbildung 3). Während die Wirtschaft anschliessend die Finanzkrise gut überstand, fiel das Wachstum in den Jahren vor der Pandemie wieder eher unterdurchschnittlich aus. Dies hängt auch damit zusammen, dass andere Länder stärker von «Aufholeffekten» nach der Rezession profitieren konnten. Von einer Stagnation der Pro-Kopf-Leistung seit der Finanzkrise kann hierzulande aber keine Rede sein.
Das Schweizer Pro-Kopf-BIP wächst – und dies auf vergleichsweise hohem Niveau. In der Vergleichsgruppe hat die Schweiz nach Luxemburg das zweitgrösste BIP pro Kopf. Dies ist von Bedeutung, weil Konvergenzprozesse eine Rolle spielen können: Volkswirtschaften mit bereits hoher Wirtschaftsleistung und Produktivität wachsen tendenziell langsamer als Länder mit niedrigerem Ausgangsniveau. Zudem: Wenn die Schweiz heute um 1% wächst, ist das aufgrund des Basiseffekts in Franken ausgedrückt fast doppelt so viel wie 1%-Wachstum in Italien. Für die Wohlstandsentwicklung ist das überaus relevant. So ist etwa Schweden von 2002 bis 2019 zwar mit 26% rund 7 Prozentpunkte stärker gewachsen als die Schweiz. Doch absolut war die Zunahme in der Schweiz rund 200 US-Dollar grösser. Selbst wenn andere Länder schneller wachsen, kann der Schweizer Wohlstand aufgrund des höheren Ausgangsniveaus noch stärker zunehmen. In absoluten kaufkraftbereinigten US-Dollar ist das BIP pro Kopf von 2002 bis 2019 nur in den USA stärker gewachsen.
Abbildung 4 zeigt die Entwicklung des Pro-Kopf-BIP relativ zum Schweizer Niveau (Wert 100% in jedem Jahr). Für jedes Jahr und Land wird dargestellt, wie gross die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung im Vergleich zur Schweiz war. Mit Ausnahme von Luxemburg (in der Grafik nicht aufgeführt; vgl. Anmerkungen) konnte einzig Norwegen zwischenzeitlich zur Schweiz aufschliessen. Das Gros der Vergleichsländer bewegt sich im Bereich von 60–80% der Schweizer Wirtschaftsleistung.
In den 1990er Jahren (und auch schon in den Jahren zuvor) hat die Schweiz an Vorsprung eingebüsst. Nach der Jahrtausendwende konnte die Schweiz diese negative Entwicklung stoppen und verliert seither kaum mehr an relativer Wirtschaftskraft. Dafür verantwortlich dürften nicht zuletzt die bilateralen Verträge sowie die (allerdings bescheidenen) marktwirtschaftlichen Reformen als Antwort auf die Krise der 1990er Jahre sein.
Pro-Kopf-Einkommen im Gleichschritt mit Arbeitsproduktivität
Der Wohlstand – gemessen am BIP pro Kopf – wächst. Gleichzeitig kann die Schweiz ihre internationale Position mehrheitlich verteidigen. Damit ist die Analyse jedoch noch nicht zu Ende. Denn auch hinter Pro-Kopf-Entwicklungen können sich unterschiedliche Dynamiken mit ungleichen Wohlstandsfolgen abspielen. Grundsätzlich kann die Wirtschaftsleistung (pro Kopf) auf zwei Arten steigen:
- Indem pro Arbeitsstunde mehr produziert (Arbeitsproduktivität) oder
- mehr gearbeitet wird (Arbeitseinsatz).
Wenn etwa mehr Frauen erwerbstätig werden, so wirkt sich das positiv auf das BIP pro Kopf aus. Umgekehrt ermöglicht eine steigende Arbeitsproduktivität, ohne Einkommenseinbussen weniger zu arbeiten. Es ist folglich möglich, dass das Pro-Kopf-BIP zwar stagniert, der durchschnittliche Wohlstand aber infolge Produktivitätssteigerungen dennoch weiter wächst.
Abbildung 5 zeigt für das BIP und das BIP pro Kopf, welchen Anteil die beiden Faktoren am Wirtschaftswachstum seit 2002 haben. Vom mittleren jährlichen Pro-Kopf-Wachstum von 0,9% geht alles auf das Konto der gestiegenen Arbeitsproduktivität. Die Arbeitsstunden pro Kopf der Bevölkerung sind hingegen rückläufig – im Gegensatz zum insgesamt eingesetzten Arbeitsvolumen, das aufgrund stetig steigender Erwerbstätigenzahlen zunahm. Somit bestätigt sich auch die Diagnose aus dem zuvor gemachten Vergleich zwischen BIP und BIP pro Kopf. Ersteres wuchs mit jährlich 1,8% doppelt so stark. Nur knapp die Hälfte des BIP-Wachstums stellt damit effektiv eine Mengenausweitung dar.
Der nüchterne Blick auf die Daten zeigt: Die Kritik, wonach sich die Schweizer Wirtschaft ohne Nutzen für Bürgerinnen und Bürger immer weiter aufblähe, zielt ins Leere. Jährliche Steigerungen der Arbeitsproduktivität von knapp 1% lassen den durchschnittlichen Wohlstand – auf hohem Niveau – weiter ansteigen. Wir arbeiten in erster Linie «besser» und nicht «mehr». Entwickelte sich die Schweiz bis Anfang der 2000er Jahre unter Industrieländern unterdurchschnittlich, kann sie ihre Position als «Wohlstandsinsel» seither erfolgreich behaupten.
Im zweiten Teil dieser Blog-Serie werden wir die Wachstumskomponenten (Arbeitseinsatz und Produktivität) noch weiter zerlegen, um ein besseres Bild dafür zu bekommen, welche Faktoren das Wachstum in der Schweiz konkret treiben – und welche es bremsen.