Immobilien sind ein Schlüssel der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Man denke nur daran, dass die Wirtschaftskrise, in der vor allem die reichen Staaten seit vielen Jahren stecken, ihren Ausgang im Immobiliensektor der USA (Stichwort: Subprime-Krise) nahm. Auch in der Schweiz führte Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre der Markt für Renditeobjekte zu schweren Verwerfungen der ganzen Volkswirtschaft. Kein Wunder warnen derzeit die Vertreter der Schweizerischen Nationalbank wieder bei fast jedem ihrer Auftritte vor der Gefahr einer Blasenbildung bzw. einer zu unvorsichtigen Verschuldung der privaten Haushalte.
Knapp hinter den Niederlanden
Unsere Grafik des Monats zeichnet diesbezüglich ein eindrückliches Bild. Die Schweiz wird in Sachen Hypothekarverschuldung nur noch von den Niederlanden knapp übertroffen. Allein die Hypothekarschulden der privaten Haushalte bei den inländischen Banken (mit Versicherungen und Pensionskassen wäre die Zahl vermutlich um etwa 16% höher) sind derzeit höher als das jährlich Bruttoinlandprodukt. Sie liegen für die Schweiz bei 106,4%, für die Niederlande bei gut 108%. Mit anderen Worten: wollte die Schweiz diese Schulden so rasch wie möglich zurückzahlen, ohne die Häuser zu veräussern, müsste sie ein ganzes Jahr lang nur für diese Rückzahlung schuften, ohne nur einen Rappen für Essen, Trinken, Kleidung oder irgendetwas anderes ausgeben zu können.
Natürlich kann und muss man diese Verhältniszahl relativieren. Andere Indikatoren zeichnen ein weniger beunruhigendes Bild. So ist die Nettovermögensposition der Haushalte stark positiv, angesichts des Immobilien-Booms der letzten Zeit erst recht. Ferner sorgen die in der Schweiz deutlich niedrigeren Zinsen als im Ausland, zumal in Hochzinsphasen, für eine entsprechend bessere Tragbarkeit der Finanzierungskosten. Und auf vielen Liegenschaften, rund einem Drittel, lasten keine Schulden (was allerdings bedeutet, dass die Belastung beim Rest entsprechend höher ist).
Die ewige Hypothek
Diese Relativierungen erklären aber kaum vollständig, weshalb die Schweiz als eines der wenigen Länder so weit vom Mainstream abweicht. Der EU-Durchschnitt ist ziemlich genau halb so hoch, in vielen Ländern, darunter nicht zuletzt in allen Nachbarländern der Schweiz, liegt der entsprechende Wert sogar deutlich unter 50%. Mit kulturellen Unterschieden, etwa einem wesentlich unsolideren Umgang der Schweiz mit Geld und Schulden, wird man die Differenz kaum begründen können. Vielmehr kommen zu den makroökonomischen Gegebenheiten zwei institutionelle Besonderheiten dazu. Da ist zum einen die steuerliche Abzugsfähigkeit der Schuldzinsen, die natürlich tendenziell einen Anreiz bietet, Schulden nicht zurückzuzahlen, auch wenn dieser Effekt gerne überschätzt wird. Zum anderen kennt die Schweiz das «einzigartige» Instrument der zeitlich unbegrenzten, ewigen Hypothek. Während in vielen Ländern eine Amortisationspflicht innert 20 oder 30 Jahren besteht, haben sich die Schweizer Banken erst vor kurzem dazu aufgerafft, eine Amortisation innert 20 Jahren (bzw. vor der Pensionierung) bis zu zwei Drittel des Belehnungswertes zu verlangen. Offenbar ist und bleibt der Hypothekarmarkt für sie ein lukratives Geschäft, auf das sie nicht verzichten möchten.
Verzerrte Märkte
Doch sollten sie überhaupt darauf verzichten? In einer wirklich freien Wirtschaft sollten Vertragsbeziehungen grundsätzlich auf dem Willen der Vertragspartner beruhen. Wenn also ein Kreditnehmer freiwillig mit dem Risiko lebt, dass ihm seine hohe Verschuldung bei einem raschen Zinsanstieg oder einer Immobilienkrise auf den Kopf fällt, warum sollte ihn dann der Staat bevormunden? Und wenn sich umgekehrt eine Bank auch ohne kontinuierliche Amortisation mit ihrem durch die Liegenschaft besicherten Kreditrisiko wohlfühlt, warum sollte sie es dann nicht eingehen?
Nur: ganz so frei und unverzerrt sind die Beziehungen nicht. Die Steuergesetzgebung bevorzugt – wenn auch milde – die Finanzierung mit Fremdkapital. Eine innovative Form, diese Bevorzugung zu beseitigen, wäre ein Zinsabzug auf dem Eigenkapital. Das wäre eher ein Schritt in Richtung eines konsistenten Steuersystems als die Abschaffung des Eigenmietwerts. Und solange man Banken in Krisensituationen nicht pleite gehen lassen will (oder kann), tragen sie die Risiken der ewigen Hypotheken eben nicht vollständig selbst. Die glaubhafte Konkursdrohung im Finanzsektor würde dagegen wohl automatisch zu einer vorsichtigeren und mehr auf Rückzahlung drängenden Hypothekarpolitik führen. Beides zusammen könnte dazu beitragen, dass die wachsende und von Generation zu Generation weitervererbte Hypothekarverschuldung der privaten Haushalte in der Schweiz einem nachhaltigeren und solideren Regime der Finanzierung von Wohneigentum weicht.
Dieser Artikel erschien am 28. September 2013 in der «Neuen Zürcher Zeitung». Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung».