«Bist Du für oder gegen Kernkraftwerke?» An dieser Frage entzündet sich immer wieder eine der emotionalsten Debatten in der Energiepolitik. Die Dichotomie erschwert einen differenzierten Diskurs, der gerade in dieser wichtigen Frage unabdingbar ist. Auch in der Schweizer Medienlandschaft wurde in den letzten Monaten mit harten Bandagen um die Deutungshoheit in dieser Frage gekämpft. Ein Auslöser war eine ETH-Studie, die u.a. die Auswirkungen eines neuen Kernkraftwerkes (KKW) ab 2040 auf die Stromversorgungskosten untersuchte.
Für den Bau neuer KKW müssten neben der Aufhebung des Genehmigungsverbots auch (private) Investoren gefunden werden. Oft wird argumentiert, dass dies aufgrund der wirtschaftlichen Perspektiven nicht möglich sei. Warum dieses Argument aus theoretischer Sicht nachvollziehbar sein könnte, ist Gegenstand dieses Blog-Beitrags.
Ökonomie der Energieerzeugung: Kurven im Vergleich
Nach dem sogenannten «Screening Curve Model» sind Bau und Betrieb von Kraftwerken je nach Erzeugungstechnologie unterschiedlich teuer. So ist z.B. der Bau eines KKW mit hohen Kosten verbunden, während der Betrieb relativ kostengünstig ist (vgl. Grafik; obere Hälfte, rote Linie / Grundlast). Daher ist es ökonomisch sinnvoll, ein KKW möglichst unterbrechungsfrei Strom produzieren zu lassen. Auch in längeren Phasen niedriger Strompreise kann das notwendig sein, da ein KKW aufgrund der hohen Fixkosten auf das Erwirtschaften von Deckungsbeiträgen angewiesen ist. Hinzu kommt, dass das Herunter- und Hochfahren eines KKW Zeit in Anspruch nimmt, was diese Art der Stromerzeugung wenig flexibel macht.
Im Vergleich dazu ist der Bau eines Gaskraftwerks eher günstig, der Betrieb aber aufgrund des verbrauchten Gases eher teuer. Gaskraftwerke eignen sich gut, Nachfragespitzen (mit hohen Marktpreisen) abzudecken, es ist in der Regel unwirtschaftlich, sie ständig, d.h. auch bei stark sinkenden Preisen am Netz zu halten (vgl. Grafik; obere Hälfte, graue Linie / Hochlast). Im Vergleich zu einem KKW ist ein Gaskraftwerk flexibler, d.h. es kann relativ rasch an- und abgeschaltet werden. Dies wird durch die unterschiedlichen Screening-Kurven abgebildet. Andere (thermische) Technologien wie Kohlekraftwerke befinden sich in diesem Modell dazwischen (Mittellast).
Der Mix macht’s
In der Regel ist der Stromverbrauch tagsüber höher als nachts oder unter der Woche höher als am Wochenende. Die Lastdauerkurve (vgl. Grafik; untere Hälfte) ordnet nun die Stunden eines Jahres nach abnehmender Last (Leistung am Netz). Der Punkt ganz links im Diagramm zeigt folglich die Spitzenlast, die während des Jahres erreicht wurde. Wenn wir den Punkt in der Mitte bei 4380 Stunden (d.h. ein halbes Jahr) wählen, zeigt dies an, dass die erforderliche Last in der einen Jahreshälfte höher und in der anderen Jahreshälfte niedriger war. Während des ganzen Jahres fiel die Last nie unter den Wert ganz rechts im Diagramm.
Der kostengünstigste Erzeugungsmix kann grafisch abgeleitet werden, indem die entsprechenden Screening-Kurven so über die Lastdauerkurve gelegt werden, dass die x-Achsen der beiden Abbildungen übereinstimmen. Der Schnittpunkt der Grundlastkurve mit der Mittellastkurve gibt Aufschluss über die optimale Grundlastkapazität. Über die optimale Aufteilung der benötigten Restkapazitäten zwischen Mittel- und Hochlast entscheidet der Schnittpunkt der jeweiligen Screening-Kurven.
Changing the Rules of the Game
Vor dem Hintergrund der zunehmenden erneuerbaren Stromerzeugung stellt sich die Frage, wie diese den optimalen Kapazitätsmix verändern. Das Screening-Curve Modell ist nur auf thermische Kraftwerke[1] anwendbar und nicht für fluktuierend erzeugten Strom, z.B. aus Photovoltaikanlagen Die Auswirkungen eines steigenden Anteils fluktuierender erneuerbarer Energien auf den kostenoptimalen thermischen Kraftwerksmix sind jedoch im Modell nachvollziehbar: Durch die zunehmende Einspeisung der Erneuerbaren werden konventionelle Kraftwerke weniger beansprucht. Somit verschiebt sich mit steigendem Wind- und Solaranteil (die zu Grenzkosten von null produzieren) die Lastdauerkurve für die thermischen Kraftwerke nach unten. Damit sinkt sukzessive die optimale Grundlastkapazität.
Es fällt auf, dass ab einem bestimmten Durchdringungsgrad der Erneuerbaren die Lastdauerkurve sogar die x-Achse schneidet. Für eine bestimmte Anzahl von Stunden im Jahr liefern Windkraft und Photovoltaik also genügend Strom, um die gesamte Last zu decken. In einer solchen Ausgangslage müssten KKW flexibel hoch- und runtergefahren werden können, was aber aufgrund ihrer technologischen Voraussetzungen die Kosten pro kWh in die Höhe treibt. Sie scheiden aus dem Markt aus. Erneuerbare Energien werden am besten durch Technologien ergänzt, welche Mittel- und Spitzenlasten gut abdecken können. Dies könnten z.B. flexible und klimaneutrale Wasserstoffkraftwerke sein.
Das Modell ist aber mit Vorsicht zu geniessen und nicht direkt auf die Schweiz mit ihrem grossen Anteil an flexibler Wasserkraft anwendbar. Will die Schweiz, wie politisch gefordert, dereinst aus der Kernenergie aussteigen, müsste sie zudem das Tempo des Umbaus des gesamten Energiesystems deutlich erhöhen. Und heute wie während diesem Umbau leisten die KKW einen unverzichtbaren Beitrag zur Schweizer Stromversorgung, der durch die Erneuerbaren noch nicht aufgefangen werden kann. Aus ökonomischer Sicht ist denn auch klar: Um die Transition des Energiesystems optimal zu begleiten, sollten die bestehenden grossen Reaktoren Leibstadt und Gösgen so lange am Netz gelassen werden, wie ein sicherer und rentabler Betrieb gewährleistet werden kann.
Weitere Ausführungen zu diesem Thema finden Sie in der Publikation «Energiepolitik unter Strom: Lösungsansätze im Spannungsfeld zwischen Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit».
[1] Kraftwerke in welchen Elektrizität aus einer Wärmequelle erzeugt wird.