Alljährlich wiederholt sich das Ritual. Während sich die Grossen der Welt in Davos treffen, beschwört so manche Nichtregierungsorganisation eine angebliche Verarmung des Landes herauf. Mehr Menschen in den Solidaritätsläden, mehr Sozialhilfeempfänger, mehr Ergänzungsleistungen (EL) – die Liste scheint endlos. Unser Land produziert offenbar viele arme Rentner.
Das Schicksal dieser Menschen darf uns nicht gleichgültig lassen. Doch die Einseitigkeit der Meldungen sollte uns aufhorchen lassen. Einseitigkeit? Lassen Sie uns es mit einem Gegenbeispiel illustrieren: Seit zehn Jahren gehen jährlich mehr als 80’000 Menschen in Rente, die bei der Pensionierung nicht auf EL angewiesen sind. Unser Land produziert offenbar viele wohlhabende Rentner.
Der kritische Leser erkennt, dass absolute Zahlen trügerisch sind. In einer wachsenden Bevölkerung (780’000 zusätzliche Einwohner zwischen 2012 und 2022, d.h. ein Wachstum von 10%) und vor allem in einer alternden Gesellschaft (+21% Rentner im gleichen Zeitraum) wäre es irreführend, nur die absolute Zunahme einer Kategorie («Kranke», «Working Poor» oder wie hier «wohlhabende Rentner») zu betrachten.
Will man die Leistungsfähigkeit unseres Sozialsystems messen, darf man nicht nur auf die absoluten Zahlen abstellen, sondern muss sie mit der Gesamtbevölkerung vergleichen. Analysiert man nämlich die Prozentwerte, lösen sich die Schreckensmeldungen in Luft auf. Das Schweizer Modell mag verbesserungswürdig sein, es zeigt aber gleichzeitig eine bemerkenswerte Stabilität.
Die Sozialhilfequote ist trotz der Covid-Pandemie rückläufig. Der Anteil der Working Poor, also der Vollzeitbeschäftigten, die nicht über die Runden kommen, bleibt konstant: Er beträgt im Jahr 2022, genau wie zehn Jahre davor, 0,4 Prozent der Erwerbsbevölkerung.
Betrachtet man die Ergänzungsleistungen zur AHV, die «Sozialhilfe für Rentner», ergibt sich ein ähnliches Bild. Beim Vergleich der Sozialhilfe mit den EL ist jedoch Vorsicht geboten, da die Zugangsvoraussetzungen nicht vergleichbar sind. Besitzt eine alleinstehende Person im erwerbsfähigen Alter ein Vermögen von mehr als 4000 Franken, verliert sie ihren Anspruch auf Sozialhilfe. Bei den Ergänzungsleistungen hingegen ist diese Schwelle mit 100’000 Franken 25 Mal höher angesetzt. Deshalb liegt die Sozialhilfequote tiefer als die EL-Quote. Letztere ist bei Personen, die pensioniert werden, seit zehn Jahren praktisch unverändert (ca. 8%, inkl. ehemalige IV-Bezüger mit EL).
Das System gerät also weder bei den Erwerbstätigen noch bei den Rentnern aus den Fugen. Ein grundsätzlicher Umbau unseres Wirtschaftsmodells oder unserer Sozialwerke ist nicht nötig. Vielmehr gilt es, weiterhin auf gezielte Massnahmen zu setzen.
Bei den Erwerbstätigen muss denjenigen, die im Arbeitsmarkt nicht integriert sind, der Wiedereinstieg erleichtert werden. Höhere Löhne für alle oder die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns würden den 67 Prozent aller Sozialhilfeempfängern, die nicht erwerbstätig sind, wenig helfen. Im Gegenteil, es würde ihre Chancen auf Wiedereinstieg noch mindern.
Die von den Gewerkschaften geforderte 13. AHV-Rente einzuführen, obwohl nur jeder zehnte Rentner bedürftig ist, würde den Senioren so viel nützen wie das Giessen eines Gänseblümchens mit dem Feuerwehrschlauch. Ein solches Vorgehen kostete jährlich fünf Milliarden Franken zusätzlich, wovon nur ca. ein Zehntel den Bedürftigsten zugute käme. Fünf Milliarden Franken sind mehr als die gezielten Sozialhilfeausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden (3,3 Mrd. Fr. im Jahr 2021) oder die EL zur AHV (3,2 Mrd. Fr. im Jahr 2022).
Angesichts der Zunahme der absoluten Anzahl bedürftiger Personen werden die Institutionen des (para-) öffentlichen Sektors zweifellos reagieren müssen; so wie das Bevölkerungswachstum mehr Plätze in Kindergärten, Schulen oder im öffentlichen Verkehr erfordert. Es braucht mehr Personal, aber auch einen effizienteren und gezielteren Einsatz der Ressourcen. Vor allem aber darf die unausgewogene Darstellung dieses Zuwachses in absoluten Zahlen statt in Prozenten nicht unser Sozialsystem destabilisieren oder für eine Klientelpolitik instrumentalisiert werden.
Dieser Text ist in der Zeitung «Le Temps» in französischer Sprache erschienen.