Die Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG durch die Schweiz ist einer der drei offenen Punkte im Entwurf des institutionellen Abkommens mit der Europäischen Union (EU), auch wenn sie im Entwurf gar nicht erwähnt wird. Diese «Unionbürgersrichtlinie» (UBRL) wurde kürzlich scharf kritisiert, vor allem vom Präsidenten einer Regierungspartei, der sie als «grössten Knackpunkt» bezeichnete, aber auch vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) und vom Gewerbeverband (SGV). Der Hauptkritikpunkt an dieser Richtlinie ist der leichtere Zugang zu Sozialhilfe, den die UBRL den EU-Bürgern bieten würde – mit der Befürchtung einer «Explosion» der Sozialhilfeausgaben.

Das Prinzip «Keine Beiträge = keine Sozialhilfe» gilt

Was würde sich durch die Aufnahme der UBRL im Hinblick auf den Zugang zur Sozialhilfe konkret ändern? Die folgende Abbildung zeigt die Hauptunterschiede zwischen der aktuellen Schweizer Regelung und den UBRL-Bestimmungen.

Die wichtigsten Änderungen würden wirtschaftlich aktive EU-Bürger betreffen. Sie würden bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit innerhalb eines Jahres nach der Ankunft sechs Monate Sozialhilfe statt null erhalten. Mehr als ein Jahr nach der Ankunft hätte jeder EU-Bürger, der unfreiwillig arbeitslos ist, Anspruch auf Sozialhilfe, solange er nach Arbeit sucht, statt wie heute sechs Monate. Für EU-Bürger, die freiwillig arbeitslos sind oder zur Arbeitssuche in die Schweiz gekommen sind, würde sich durch die UBRL nichts ändern; sie hätten weiterhin keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Entgegen ihrer Kritiker würde die UBRL die Schleusen der Sozialhilfe für wirtschaftlich inaktive EU-Bürger nicht öffnen, die seit weniger als fünf Jahren in der Schweiz leben. Die Umsetzung der UBRL in Deutschland zeigt, dass es möglich ist, den Zugang zur Sozialhilfe auf EU-Bürger zu beschränken, die innerhalb dieses Zeitraums gearbeitet haben. Die UBRL wäre somit mit dem Prinzip «Leistungen gegen Beiträge» für EU-Bürger mit einer B-Bewilligung vereinbar.

Anmerkungen: Familiennachzugfälle sind hier nicht enthalten. Die UBRL befasst sich nicht mit der Arbeitslosenentschädigung für Grenzgänger: Diese unterliegt den Regeln der transnationalen Koordinierung der Sozialsysteme, deren geplante – und von der Schweiz abgelehnte - Reform noch nicht abgeschlossen ist.

Keine Explosion der Sozialhilfe in Sicht mit der UBRL

Wie viel würde die Anwendung der UBRL in der Schweiz an zusätzlichen Sozialhilfeleistungen kosten? Die Schätzung wird durch mehrere Unwägbarkeiten erschwert, die im folgenden Wahrscheinlichkeitsbaum dargestellt sind. Insbesondere ist nicht bekannt, ob die Schweiz diese UBRL (ganz oder teilweise) überhaupt übernehmen muss und wie das soziodemografische Profil der Personen aussieht, die neu Anspruch auf Sozialhilfe haben.

Es wurden zwei Szenarien entwickelt. Das «Worst-Case-Szenario» zeigt die schlechteste der möglichen Alternativen in jedem der fünf Schritte (roter Pfad), auch wenn sie unrealistisch ist. Dies wird zur Berechnung der erwarteten Kostenobergrenze verwendet. Das «pessimistische Szenario» weicht von den letzten beiden Schritten ab (Vorhandensein von Fällen der Nichtinanspruchnahme und durchschnittliche Höhe der Sozialhilfe).

Auf der Grundlage dieser Annahmen ergibt eine grobe Schätzung der Kosten für zusätzliche Sozialhilfeleistungen eine Grössenordnung von etwa 27,5 Mio. Fr. pro Jahr, mit einer Obergrenze von etwa 75 Mio. Fr. pro Jahr.

FällePessimistisches Szenario
Zusätzliche Kosten
Worst-Case-Szenario
Zusätzliche Kosten
EU-Bürger in unfreiwilliger Arbeitslosigkeit weniger
als 12 Monate nach Ankunft in der Schweiz
+ 6,5 Mio. Fr. / Jahr+ 17 Mio. Fr. / Jahr
EU-Bürger in unfreiwilliger Arbeitslosigkeit mehr
als 12 Monate nach Ankunft in der Schweiz
+18 Mio. Fr. / Jahr+ 50 Mio. Fr. / Jahr
Jeder EU-Bürger, der sich seit mehr als 60 Monaten
in der Schweiz aufhält
+ 3 Mio. Fr. / Jahr+ 8 Mio. Fr. / Jahr
Nicht erwerbstätiger EU-Bürger, der sich seit weniger
als 60 Monaten in der Schweiz aufhält
+ 0 Fr. / Jahr+ 0 Fr. / Jahr
Jeder EU-Bürger, der sich seit weniger als 3 Monaten
in der Schweiz aufhält
+ 0 Fr. / Jahr+ 0 Fr. / Jahr
EU-Bürger, der in die Schweiz kommt,
um Arbeit zu suchen
+ 0 Fr. / Jahr+ 0 Fr. / Jahr
EU-Bürger in freiwilliger Arbeitslosigkeit+ 0 Fr. / Jahr+ 0 Fr. / Jahr
Gesamte Zusatzkosten+ 27,5 Mio. Fr. / Jahr+ 75 Mio. Fr. / Jahr
In % der Sozialhilfeausgaben+ 0,8 % + 2,3 %
In % der Sozialwerkeausgaben+ 0,02 % + 0,04 %
*Anmerkungen : Extrapolation aufgrund einer beschränkten Anzahl von Beobachtungen. Die Resultate sind mit grosser Vorsicht zu interpretieren.
*Quelle : Eigene Berechnungen, basierend auf BFS 2014, 2015, 2016, 2017, 2018 et 2019 (SAKE), BFS 2020a und 2020b (SHBS), SKOS 2020

 

Diese Zahlen wurden ermittelt, indem die Anzahl der Personen, die den einzelnen Fällen entsprechen, über einen Durchschnitt der letzten sechs Jahre anhand von BFS-Daten geschätzt wurde. Diese Zahlen werden dann mit einem Näherungswert für die Kosten eines Haushalts, der Sozialhilfe bezieht, multipliziert. Der «Sogeffekt» – die Zuwanderung von neuen EU-Bürgern in die Schweiz allein zum Zweck, von unseren Sozialleistungen zu profitieren – ist vernachlässigbar (vgl. Box).

Ein kurzatmiger «Sogeffekt»

Obwohl Missbräuche immer möglich sind, ist es unwahrscheinlich, dass die Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie zu einer Ausbreitung des «Sozialtourismus» führen wird.

Zunächst einmal müssten sich potenzielle «Betrüger» in Geduld üben: Der durch die UBRL ermöglichte neue Zugang zur Sozialhilfe würde nämlich nur EU-Bürger betreffen, die vor dem unfreiwilligen Verlust ihres Arbeitsplatzes mindestens zwölf Monate lang in der Schweiz gearbeitet haben und sechs Monate nach Ausschöpfung aller Arbeitslosenentschädigungen immer noch arbeitslos sind (mindestens neun Monate lang, sofern die Verpflichtungen zur Arbeitssuche erfüllt werden). Das bedeutet, dass eine missbräuchliche Situation frühestens 29 Monate nach Ankunft des «Betrügers» in der Schweiz eintreten kann. Ein zweites Argument ist der historische Präzedenzfall, der durch das Abkommen über die Personenfreizügigkeit geschaffen wurde. Sein Inkrafttreten löste die gleichen Befürchtungen einer Explosion der Sozialgesetzgebung aus. 18 Jahre später zeigen die Auswertungen des Staatssekretariats für Wirtschaft, dass diese Befürchtungen unbegründet waren.

Im Kontext betrachtet, sehr bescheidene Kosten

Bisher fehlte eine wirtschaftliche Abschätzung der Kosten für die Übernahme der UBRL. Diese Unsicherheit hat es den Kritikern erlaubt, die Auswirkungen auf die Schweiz zu dramatisieren. Obwohl aufgrund der begrenzten Datenlage nur skizzenhaft, zeigt unsere Analyse, dass der Anstieg der Sozialausgaben selbst in einem «Worst-Case-Szenario», in dem nur die schlechtesten Parameter für die Schweiz – einschliesslich der am wenigsten plausiblen – berücksichtigt werden, bescheiden ausfallen würde.

Zunächst einmal wären die Kosten auch im ungünstigsten Fall für den Sozialstaat gering. Die Schweiz gibt jährlich 168 Mrd. Fr. für Sozialversicherungsleistungen aus. Die Ausgaben für Sozialhilfe machen derzeit nur 1,85% davon aus und würden in einem «Worst-Case-Szenario» nur 1,89% betragen. Politisch interessanter wären Fragen der Gesundheitskosten und der Zukunft der ersten und zweiten Säulen: Sie umfassen mehr als drei Viertel der Sozialausgaben unseres Landes.

Die Auswirkung der UBRL wäre auch im Hinblick auf ein institutionelles Rahmenabkommen (InstA) bescheiden. Sein Abschluss würde es der Schweiz ermöglichen, die Zusammenarbeit mit ihren europäischen Partnern zu vertiefen, insbesondere in den Bereichen Strom, Digitalisierung, Handel, Finanzdienstleistungen und Gesundheit, und würde auch der Wirtschaft mehr Rechtssicherheit bieten. Allein durch das Stromabkommen könnten die Verbraucher mehr sparen (120 Mio. Fr. pro Jahr), als die UBRL den Steuerzahler kosten könnte (ca. 28-75 Mio. Fr. pro Jahr).

Im Lichte dieser Einschätzung überrascht die Heftigkeit der Debatte um die UBRL, zumal nicht einmal sicher ist, ob die Schweiz sie überhaupt übernehmen soll oder nicht. In jedem Fall zeigt diese Analyse, dass die ideologischen Gegner der UBRL nicht mit dem Schreckgespenst explodierender Kosten operieren können, um sie zu kritisieren. Aus wirtschaftlicher Sicht überwiegt der erwartete Nutzen die zusätzlichen Kosten bei weitem.