Diese These macht gerade die Runde: Die Arbeitswoche wird immer kürzer (pro Vollzeitstelle sind seit 2018 46 Minuten pro Woche verloren gegangen), weshalb ein deutlicher Anstieg der Zahl der Beschäftigten notwendig wäre, um unsere Produktion und Löhne aufrechtzuerhalten. Nur eine hohe Zuwanderung könnte Abhilfe schaffen – aber das würde populistischen Strömungen Vorschub leisten.

Was ist davon zu halten? Das Wachstum der Arbeitsproduktivität war in den letzten Jahren in der Schweiz beachtlich. Mit einem Plus von 1 Prozent pro Jahr zwischen 2010 und 2022 lag dieses sogar etwas höher als in den USA. Produktivitätsfortschritte münden früher oder später in steigende Stundenlöhne. Doch ob auch der Jahreslohn oder die Wirtschaftsleistung pro Kopf steigt, hängt davon ab, wie viele Stunden man arbeitet. Höhere Stundenlöhne lösen dabei zwei gegenläufige Effekte aus:

  • Einen Substitutionseffekt: Wenn die Stundenlöhne steigen, bringt jede zusätzliche Arbeitsstunde mehr ein. Arbeit wird dadurch attraktiver, man arbeitet deshalb tendenziell mehr.
  • Einen Einkommenseffekt: Ein gegebenes Einkommen kann mit weniger Arbeitsstunden erreicht werden. Für den gleichen Gesamtlohn kann man sich also mehr Freizeit leisten. Das lässt zwar die Wirtschaftsleistung pro Kopf nicht steigen, erhöht aber die individuelle Lebensqualität.

Nun scheint der Einkommenseffekt in den letzten Jahren – und besonders seit der Pandemie – im Aggregat den Substitutionseffekt zu dominieren. Das ist bemerkenswert. Lange Zeit hoben sich die Effekte nämlich weitgehend auf. Trotz grossen Produktivitätsfortschritten und deutlich höheren Stundenlöhnen gingen die Arbeitsstunden nur geringfügig zurück: von 1970 bis 2015 insgesamt um etwa 3 Stunden pro Woche. Seither haben die Erwerbstätigen ihr Verhalten verändert: Die Frauen leisten sich ein wenig mehr Freizeit und die Männer engagieren sich stärker in der Familien- und Haushaltsarbeit.

Kommt deshalb die nächste Welle der Zuwanderung, weil die hiesigen Erwerbstätigen nicht mehr so lang arbeiten wollen? Dieser Zusammenhang ist nicht zwingend. In vielen europäischen Ländern sind ähnliche Tendenzen zu beobachten (siehe Abbildung). Die Jahresarbeitszeiten gehen auf breiter Front zurück, auch in Ländern, in denen mehr Personen aus- denn einwandern. Tatsächlich beruht das Argument «mehr Freizeit bedeutet mehr Zuwanderung» auf der (falschen) Vorstellung, dass es in der Schweiz eine fixe Menge an Arbeit gibt, die, wenn sie von den Einheimischen nicht geleistet wird, gleich von Migranten übernommen werden kann. Doch Zuwanderer sind keine vollkommenen Substitute für die einheimischen Arbeitskräfte. Vielmehr gibt es zwischen diesen Gruppen beim Lohn eine nachgewiesene komplementäre Beziehung. Das würde bedeuten, dass bei einem Rückgang des Arbeitsangebots der Einheimischen die Zuwanderung sogar eher gedrosselt würde.

Und wie steht es mit der weit verbreiteten Teilzeitarbeit? Diese sei ebenfalls ein Zeichen unserer wohlstandsverwöhnten Nation, meinen viele. Doch diese Sicht greift zu kurz: Die Zunahme der Teilzeitarbeit ist eher der Beweis dafür, dass für bestimmte Gruppen (besonders die Frauen) der Substitutionseffekt immer noch wirkt. Denn es sind nicht so sehr die Männer, die ihre Pensen reduzieren und nun Teilzeit arbeiten. Es sind vielmehr die Frauen, die aus der Nichterwerbstätigkeit in die Teilzeit gewechselt sind und dadurch mehr verdienen . Eine Individualbesteuerung würde die (Grenz-)Steuerbelastung für den Zweitverdiener – in rund 85% der Haushalte sind das immer noch die Frauen – deutlich senken. Die dadurch höheren Netto-Stundenlöhne würden sie motivieren, ihre Arbeitspensum weiter zu erhöhen.