Marignano – mystifizierte Schlacht und Niederlage der Eidgenossen vor über 500 Jahren: Ähnlich ergeht es heute der Schweizer Strombranche. Der Strommarkt, der aus ökonomischer Sicht den Begriff «Markt» nicht verdient, macht der Branche zu schaffen. Der ganzen Branche? Nein, einige Unternehmen sind weiterhin sehr erfolgreich unterwegs. Beispielsweise erwirtschafteten die Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ) 2015 einen EBIT von über 84 Mio. Fr., die Energie Wasser Luzern Holding (ewl) der Stadt Luzern 43 Mio. Fr. und die Energie Wasser Bern (ewb), im Eigentum der Stadt Bern, 37 Mio. Fr.
Glück oder Strategie?
Viele dieser erfolgreichen Unternehmen haben weitere Ertragspfeiler wie die lokale Versorgung mit Gas, Wasser oder gar Internet. Einige investierten auch in den Ausbau des Dienstleistungsangebots und bieten Energieberatung, Gebäudetechnik-Lösungen oder gar die Vermietung von E-Bikes an. Stehen dahinter – wie es bei Unternehmen üblich wäre – kluge strategische Entscheide des Verwaltungsrates und Managements? Sicher, zumindest teilweise. Ein grosser Teil ist auch Glück, zum richtigen Zeitpunkt die passende Kundenstruktur sowie die richtigen Eigentümer gehabt zu haben.
Typischerweise handelt es sich bei den erfolgreichen Unternehmen um Betriebe der öffentlichen Hand, die teilweise ohne eigene Rechtspersönlichkeit in die Verwaltung von grösseren Gemeinden oder Kantonen integriert sind. Diese Stromversorger wurden bei der ersten Etappe der Strommarktöffnung faktisch geschont, der Bund erlaubte 2009 erst den Endverbrauchern mit einem Verbrauch von 100 MWh pro Jahr oder mehr den sogenannten «direkten Netzzugang». Sie können somit ihren Stromversorger selbst auswählen. Noch 2007 sah man bis 2014 die Umsetzung der zweiten Etappe vor, die Öffnung des Strommarktes auch für den typischen Schweizer Haushalt. Davon ist man heute wieder abgerückt – die Liberalisierung ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Entsprechend liegt die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern in betreffenden Rankings im Hintertreffen.
Wirtschaftlich erfolgreich dank Regulierung . . .
Die Stromkosten für Grossverbraucher im geöffneten Teil des Marktes orientieren sich an den Grosshandelspreisen und dem Wettbewerb unter den Stromversorgern. Anders ist dies für die «Endverbraucher mit Grundversorgung» geregelt – die privaten Haushalte also. Sie sind an ihren regionalen Stromversorger gebunden. Die Stromversorgungsverordnung (StromVV) legt in Art. 4 fest: «Der Tarifanteil für die Energielieferung an Endverbraucher mit Grundversorgung orientiert sich an den Gestehungskosten (…)». Energieversorger, die über keine oder nur wenig eigene Kraftwerke verfügen oder Bezugsverträge haben, die die heute tiefen Grosshandelspreise spiegeln, weisen tiefere Gestehungskosten aus als Anbieter mit einem hohen Grad an selbst produzierter Energie oder älteren Lieferverträgen. Doch aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen können letztgenannte Stromversorger ihre höheren Kosten beinahe risikolos an die Kleinbezüger weiterverrechnen. Damit ist der wirtschaftliche Druck abgemindert, Strom möglichst effizient und zu Marktpreisen anzubieten.
. . . doch die Stromkonsumenten zahlen die Zeche . . .
Die Strombranche der Schweiz ist somit zweigeteilt: Auf der einen Seite Unternehmen ohne oder mit nur einem geringen Anteil an Kleinbezügern, die hartem Wettbewerb ausgesetzt sind. Auf der anderen Seite Versorger mit einem hohen Anteil an «gefangenen» Konsumenten, die beinahe unbeeinflusst vom Grosshandelspreis wirtschaften können. Ihr finanzieller Erfolg basiert zu einem grossen Teil auf der regulatorischen Möglichkeit der kostenbasierten Weiterverrechnung der Energie-Gestehungskosten. Da diese Kosten über dem Grosshandelspreis liegen, bezahlen kleine Bezüger von Strom heute mehr als die Abnehmer im liberalisierten Teil des Marktes.
. . . und tragen als Steuerzahler die Risiken
Zu den höheren Kosten für den Stromkonsumenten kommt in seiner Rolle als Steuerzahler ein zweifaches Risiko hinzu: Erstens expandieren einige der Staatsunternehmen munter in Bereiche klar ausserhalb der reinen lokalen Versorgung mit Energie, Gas oder Wasser. Dies wohl in der hehren Absicht, dereinst bei einer Liberalisierung des Marktes Sparten zu haben, die helfen, das Kerngeschäft zu stützen. Damit konkurrieren staatliche Firmen mit ihren neuen Angeboten teilweise direkt das Geschäft von Privatunternehmen. Der finanzielle Erfolg der Diversifikation ist aber nicht garantiert, die Risiken dafür tragen aber letztlich die Steuerzahler.
Zweitens ist anzunehmen, dass unter den gegebenen Marktbedingungen bei einer vollständigen Liberalisierung des Strommarktes auch ein Teil der heute erfolgreichen Unternehmen in grössere finanzielle Schwierigkeiten geraten würde. Insbesondere jene Unternehmen, die eigene Kraftwerke und viele gefangene Kunden haben. Sie könnten ihre Gestehungskosten nicht mehr weiterverrechnen, sondern müssten sich am Marktpreis orientieren. Basierend auf den heute tiefen Grosshandelspreisen für Strom müssten die Unternehmenswerte nach unten korrigiert werden. Bei den staatlichen Energiefirmen tragen letztlich die Steuerzahler das Risiko der latenten Bewertungskorrektur, oder müssten im schlimmsten Fall gar (Steuer-)Geld einschiessen.
Ohne eine fundamental anziehende europäische Konjunktur, einer massiven Verteuerung fossiler Energieträger, einem hohen Wertverlust des Schweizer Frankens oder dem Verzicht auf grossflächige staatliche Subventionen in Nachbarländern wird sich in den nächsten Jahren an dieser Situation voraussichtlich nicht viel ändern.
Positive Konsequenzen einer vollständigen Marktöffnung
Die Konsequenzen einer vollständigen Marktöffnung würden durch die Vorteile für Kleinbezüger wohl mehr als ausgeglichen. Die Stromkonsumenten hätten eine echte Wahlmöglichkeit, die über die reine Bestimmung der Strom-Art (z.B. AKW- versus Ökostrom) hinausginge. Verschiedene Anbieter mit verschiedenen Preismodellen, wie heute beispielsweise in Deutschland üblich, stünden zur Auswahl. Private Haushalte könnten so bei einer Liberalisierung auch bei der aktuellen Marktlage mit tieferen Stromkosten rechnen.
Weiter würde durch die Festlegung eines verbindlichen Termins der Marktöffnung der politische Druck erhöht, die öffentlichen Haushalte endlich von den Beteiligungen an Stromunternehmen zu befreien. Das latente wirtschaftliche Risiko für den Steuerzahler würde sinken, die Konsequenzen des Marignano der Strombranche wären abgemildert.