Genau vor einem Jahr begann die russische Invasion in der Ukraine. Der ukrainische Widerstand ist seither viel grösser und auch erfolgreicher, als sich die meisten im Westen hätten vorstellen können. Seit Beginn der jüngsten russischen Offensive ist die Ukraine allerdings wieder zunehmend unter Druck. Es fehlt weiterhin nicht am Verteidigungswillen, aber verschiedene Rüstungsgüter, vor allem Munition, werden knapper.
Die Lage könnte auch (indirekt) mit Schweizer Hilfe etwas entschärft werden, wenn nicht das Parlament vor etwas über einem Jahr das Kriegsmaterialgesetz (KMG) derart verschärft hätte, dass dieses dem Bundesrat praktisch verunmöglicht, Gesuche zur Weitergabe von in andere Länder exportiertem Kriegsmaterial zu bewilligen. Am Dienstag hat nun die sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats eine leichte Lockerung vorgeschlagen, die mehrheitsfähig sein könnte: Ländern mit demokratischen Werten und einem ähnlichen Exportkontrollregime wie die Schweiz soll es erlaubt sein, in der Schweiz gekauftes Rüstungsmaterial weiterzugeben – auch an ein Land, das «von seinem völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrecht Gebrauch macht». Die Lockerung ist allerdings mit strengen Auflagen verbunden. Um jedes Wort sei gerungen worden, ist aus der Kommission zu hören. Ob die Ukraine noch davon wird profitieren können, darf zudem bezweifelt werden. Vor 2024 wird der Bundesrat wohl keinerlei Weitergabe von Rüstungsgütern bewilligen können.
Eigentum ohne Verfügungsrecht?
Als Laie – und noch mehr als liberaler Ökonom – ist man verdutzt ob derartigen Diskussionen. Es mag angesichts der Komplexität völkerrechtlicher Bestimmungen und der Nuancen der Diplomatie naiv klingen, aber: Müsste man nicht eigentlich meinen, dass ein Land, das Rüstungsgüter aus einem anderen Land erworben hat, mit diesen – nun seinen eigenen – tun darf, was es will? Dass der Eigentümer einer Ware nicht über ihre Verwendung bestimmen können soll, muss doch a priori verblüffen. Klar: Als neutrales Land ist es der Schweiz verboten, kriegsführende Länder mit ihren Rüstungsexporten ungleich zu behandeln, und es ist nahliegend, dieses Verbot nicht leichtfertig zu umgehen, indem man solche Güter einfach über ein anderes, nicht kriegsführendes Land schleust. Aber dass man Deutschland die Weitergabe von Munition verbieten kann, die es vor vielen Jahren von uns gekauft hat, als zudem besagter Verteidigungsfall noch nicht akut war, widerspricht jeglicher Intuition vom Begriff «Eigentum».
Die Neutralität ist unter Druck – so oder so
Zweitens schafft es die Schweiz auch mit einer besonders strikten Haltung zum Reexport von Kriegsmaterial nicht, ihre Neutralität zu schützen:
Eine derart strikte Einschränkung zur Wiederausfuhr schafft folgende Situation: Zu allem anderen als der Selbstverteidigung darf das Material nicht eingesetzt werden, sobald aber dieser Fall einträfe, das importierende Land also direkt angegriffen würde, drohte wegen der Neutralität der Schweiz sofort eine Unterbrechung des Materialflusses. Unter solchen Voraussetzungen dürfte das ausländische Interesse an Schweizer Kriegsgütern schnell sinken. Die Schweizer Rüstungsindustrie würde dadurch über kurz oder lang geschwächt oder möglicherweise sogar ganz verschwinden, denn die Schweizer Armee reicht als Kundin der hiesigen Rüstungsindustrie nicht aus, um diese rentabel zu betreiben. Die Schweiz müsste sich Kriegsgüter dann ausnahmslos im Ausland – und damit weitestgehend bei Nato-Staaten – besorgen. Das würde die Souveränität der Schweiz unterminieren und damit eben auch wieder eine glaubwürdige Neutralität verunmöglichen.
Die Krux ist also: Erlaubt die Schweiz eine einfache Weitergabe von Kriegsmaterial, ist ihre Neutralität gefährdet, besteht sie auf strengen Restriktionen bei der Weitergabe, ist ihre Neutralität langfristig ebenso gefährdet.
Aus diesem Dilemma gibt es keinen sauberen Ausweg. Konsequent wäre es, die Neutralität ganz neu auszulegen. Das würde dann eine deutliche Ausrichtung an der Nato unter Wahrung einer Fassade von Neutralität bedeuten, so wie es Schweden und Finnland in den letzten Jahren taten. Oder es könnte als noch konsequenteres Eingeständnis dessen, dass die Schweiz im Ernstfall ohnehin Teil eines Verteidigungsbündnisses sein würde, sogar einen Nato-Beitritt bedeuten – unter Wahrung einer neu definierten Neutralität: Die Schweiz würde sich völkerrechtlich dazu verpflichten, neutral gegenüber Konflikten sein, die entweder komplett ausserhalb oder komplett innerhalb dieses Bündnisses stattfinden. Zudem würde sie an keinerlei militärischen Handlungen ausserhalb des Nato-Territoriums teilnehmen. Sie würde sich nur beteiligen, wenn dieses Bündnis angegriffen wird – weil das gleichzeitig einen Angriff auf die Werte der Schweiz darstellt. Und diese Beteiligung müsste noch nicht einmal über Auslandseinsätze geschehen. Es würde schon reichen, wenn sie mit (der Weiterführung von) Waffenlieferungen kooperiert und beispielsweise ihr eigenes Territorium (oder wenigstens den Luftraum) gegenüber Nato-Streitmächten öffnet.
Langfristig wäre damit die Sicherheit der Schweiz besser gewährleistet als heute, und das Neutralitätsverständnis aus dem 19. Jahrhundert würde auf eine neue Basis gehoben, die den Realitäten des 21. Jahrhunderts entspricht.