Stefan Häne: Die Standortförderung befeuert die Zuwanderung mehr, als offizielle Zahlen zeigen. Überrascht Sie das?
Patrik Schellenbauer: Gemäss einer Studie des Bundes von Ende 2013 kamen dank Standortförderung pro Jahr 2000 Zuwanderer plus ihre Familien, macht insgesamt 3200 Personen. Dabei wurde jedoch nur die Beschäftigung im ersten Jahr der Firmengründung erfasst, der Jobaufbau in den Folgejahren ist unbekannt. Der eigentliche Denkfehler der Studie ist jedoch ein anderer: Die angesiedelten Firmen rekrutieren, ähnlich wie die bereits ansässigen, die Hälfte ihres Personals im Ausland. Der Rest stammt aus der Schweiz. Doch diese Inländer haben hier bereits einen Job. Der ehemalige Arbeitgeber muss also Ersatz suchen – und tut dies in der Regel auch im Ausland. Jeder neue Arbeitsplatz überträgt sich fast 1:1 auf die Zuwanderung, nicht nur zu 50 Prozent, wie in der Studie unterstellt.
In jüngster Zeit sind pro Jahr netto 80 000 Menschen eingewandert. Haupttreiber der Zuwanderung ist die Standortförderung aber auch dann nicht, wenn statt 3200 – sagen wir – 10000 Personen einwandern. Setzen Sie am falschen Hebel an?
Nein. Wir machen uns aber keine Illusionen: Unser Vorschlag bewirkt keine Wunder – das tut aber keine einzelne Massnahme, welche die Zuwanderung dämpfen soll. Es braucht darum ein abgestimmtes Bündel von Massnahmen.
Will Avenir Suisse nicht vielmehr unter dem Deckmantel der Einwanderungsreduktion die Standortförderung abschaffen, weil sie dieses Mittel als wettbewerbsverzerrend taxiert?
Diese Diskussion haben wir schon lange vor der Abstimmung über die Zuwanderungsinitiative geführt. Sie haben aber recht: Wir halten es ordnungspolitisch für falsch, zuziehenden Firmen Vorteile zu gewähren, ansässigen aber nicht. Ich meine damit nicht nur steuerliche Vergünstigungen, auch der privilegierte Zugang zu Bauland kann den Wettbewerb verzerren. Ein solches Doping braucht der Standort Schweiz nicht. Wir wollen die Schweiz aber nicht unattraktiv machen, Standortmarketing – im Sinne des Anpreisens des Standorts Schweiz – bleibt wichtig.
Auch die Pauschalbesteuerung zieht Ausländer an. Konsequenterweise müsste Avenir Suisse auch dieses Instrument abschaffen wollen.
In der Schweiz leben rund 5500 Pauschalbesteuerte. Sie wohnen teils schon sehr lange hier. Die Migration wird also nicht wirklich befeuert mit diesem Instrument. Es ist durchaus legitim, wohlhabende Ausländer pauschal zu besteuern, da die Inländer durch diesen «Eintrittspreis» in das Gemeinwesen einen Vorteil erlangen, indem sie selbst Steuern sparen. Schliesslich bezahlen diese Leute auch unter pauschaler Veranlagung viel Steuern.
Vom Zuzug einer Firma können Kantone und Gemeinden aber auch profitieren.
Das ist richtig. Doch die spezifische Standortförderung, wie wir sie kritisieren, verstärkt die Zuwanderung, die Pauschalbesteuerung hingegen, wie eben dargelegt, tut dies kaum.
Statt auf die Standortförderung zu fokussieren, wäre es erkenntnisreicher, den Einfluss des allgemein tiefen Steuerniveaus auf die Zuwanderung zu messen.
Die Schweiz als Ganzes ist keine Steueroase, die Staatsquote ist nur unwesentlich tiefer als diejenige Deutschlands, und dies muss finanziert werden. Das allgemeine Steuerniveau ist in der Schweiz darum kaum tiefer als in den Nachbarländern.
Aber einzelne Kantone können mit Tiefsteuersätzen für Firmen im globalen Wettbewerb gut mithalten.
Um den Wohlstand zu halten, muss die Schweiz im Bereich der Unternehmenssteuern attraktiv bleiben. Das ist von aktiven Firmenansiedlungen über fallweise Vergünstigungen klar zu trennen. Der globale Standortwettbewerb reduziert sich aber nicht allein auf die Steuerfrage. Steuern können sich schnell ändern. Für langfristig denkende Firmen stehen daher andere Standortmerkmale im Vordergrund, etwa das liberale Arbeitsrecht oder die Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften.
Trotzdem zieht die Tiefsteuerpolitik Firmen und damit neue Menschen aus dem Ausland an.
Die günstigen Unternehmenssteuersätze gewisser Kantone haben mehr kapitalintensive Firmen angezogen als arbeitsintensive. Davon haben nicht zuletzt die Staatsfinanzen stark profitiert. Zudem wäre es gefährlich, das ganze System infrage zu stellen. Der Steuerwettbewerb unter Kantonen und auch Gemeinden ist der wichtigste Grund, warum der Staat mit den Steuermitteln sorgsam umgeht, bürgernah geblieben ist und eine effiziente Verwaltung betreibt. Er ist also ein wesentlicher Erfolgsfaktor.
Gemäss einer TA-Umfrage sind Hochsteuerkantone auf Standortförderung angewiesen. Eine Abschaffung würde sie schwächen und Tiefsteuerkantone stärken. Will Avenir Suisse die Schweiz entzweien?
Nein. Aber auch Hochsteuerkantone wie Solothurn brauchen keine zusätzliche Beschäftigungspolitik, die Arbeitslosigkeit ist dort nicht höher als anderswo. Zudem verstärkt in den Randregionen der Zuzug ausländischer Firmen die Einwanderung überdurchschnittlich, weil dort Fachkräfte häufiger fehlen als in den Zentren. Die strukturschwächeren Kantone sollten eher anstreben, von den Schweizer Wachstumspolen zu profitieren.
Dieses Interview erschien im «Tages-Anzeiger» vom 05. Juli 2014. Mit freundlicher Genehmigung des «Tages-Anzeigers».