Kathy Horisberger: Sie haben 2008 in einem grossen Kantonsmonitoring die betriebliche Autonomie von 125 Schweizer Akutspitälern verglichen. Wie sieht das heute aus?
Urs Meister: Wir haben seither keine neue Erhebung gemacht. Ich gehe aber davon aus, dass sich der in der Studie festgestellte Trend zu höherer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit vom politischen Prozess fortgesetzt hat. Das bestätigt auch ein Blick auf den Aspekt der Rechtsform. Nach 2008 nahm der Anteil Spitäler als Teil der öffentlichen Verwaltung, Zweckverband oder unselbstständige Anstalt weiter ab, der Anteil der selbstständigen Anstalten und vor allem der Aktiengesellschaften dagegen weiter zu.
Was hat sich damit verändert?
Damit einher gehen auch Veränderungen in den internen Führungs- und Organisationsstrukturen, die wir im Rahmen der Studie auch untersucht hatten. So ist etwa davon auszugehen, dass in den meisten Spitälern die sogenannte «Dreibein»-Struktur (Pflege, Medizin und Verwaltung) durch eine einfache und klare CEO-Führungsstruktur abgelöst wurde. Daneben dürften mit den Rechtsformänderungen vermehrt privatrechtliche Anstellungsverhältnisse
geschaffen worden sein. Die Studie fokussierte ausserdem sehr stark auf die Struktur der Finanzierung. Diese hat sich mit der neuen Spitalfinanzierung grundlegend verändert und allen Spitälern gleichzeitig höhere Autonomie eingeräumt – etwa im Vergleich zu den bis 2008 noch sehr verbreiteten starren und Anreiz verzerrenden Modellen der reinen Defizitdeckung.
Durch welche Kriterien wird die faktische Autonomie bestimmt?
Es ist in der Tat schwierig, die betriebliche Autonomie zu messen. Man müsste zwischen formeller und tatsächlicher Autonomie unterscheiden können. Schliesslich kann die Politik auf unterschiedlichen formellen, aber auch informellen Ebenen Einfluss auf die Strukturen und Tätigkeiten der Spitäler nehmen. In der Studie erhoben wir die Rechtsform und die Eigentümerstrukturen der Spitäler und verglichen damit – etwas global ausgedrückt – ihre formelle Staatsnähe. Der Freiheitsgrad auf Seiten des Spitals nimmt zu, wenn es selber Eigner der Immobilien ist (und nicht etwa als Mieter gegenüber dem Kanton auftritt). Unter anderem wurde auch die Unabhängigkeit der strategischen und operativen Führungsstrukturen untersucht, etwa inwiefern die strategischen Organe durch Vertreter von Politik und Parteien besetzt werden.
Wenn wir von der strategischen Führung sprechen: Welches Modell erlaubt am meisten Handlungsfreiheit?
Die Aktiengesellschaft mit der Generalversammlung und dem Verwaltungsrat schafft eine adäquate Form von Autonomie für ein öffentliches Unternehmen, das sich vermehrt in einem wettbewerblichen Umfeld bewegt. Die tatsächliche Ausgestaltung dieser Organe und der strategischen Freiheiten kann allerdings in den Statuten sehr unterschiedlich gehandhabt werden. Ein Vergleich zwischen den Rechtsformen und der damit verbundenen Autonomie ist aber nur beschränkt aussagekräftig. Schliesslich lässt sich auch die selbstständige öffentliche Anstalt recht nahe an der Aktiengesellschaft organisieren. So können beispielsweise die Anstellungsverträge privatrechtlicher Natur sein und es kann auch ein Organ analog zum Verwaltungsrat in der Aktiengesellschaft geschaffen werden.
Sie stellten damals vielerorts noch eine problematische Mehrfachrolle der Kantone als Eigner fest, welche die Spitäler in ihrem Handlungsspielraum stark einschränkten. Hat sich das verbessert?
Nein, das hat sich im Grunde nicht verbessert. Nach wie vor sind die meisten Spitäler im Eigentum der öffentlichen Hand, vor allem der Kantone. Als Eigner und Regulierer im Rahmen der kantonalen Spitalplanung haben die Kantone weiterhin diese Mehrfachrolle inne. Dies ist umso kritischer, weil das neue Modell der Spitalfinanzierung eigentlich wettbewerbliche Elemente in den Spitalmarkt bringen sollte. Die Kombination der Fallpauschalen mit einer höheren Patientenmobilität über die Kantonsgrenzen hinaus sollte mehr Konkurrenz schaffen. Doch über das Instrument der kantonalen Spitalplanung können die Kantone vielfältig Einfluss auf die Intensität des Wettbewerbs nehmen und damit die erhoffte Steuerungsfunktion der Fallpauschalen verzerren.
Deshalb halten viele Kantone immer noch an ihrem Spitaleigentum fest, auch wenn sie die Spitäler privatisiert haben?
Nach wie vor ist die Spitalversorgung ein sehr politisches Thema. Politiker möchten die Kontrolle über die Entwicklungen nicht einem marktwirtschaftlichen Mechanismus abtreten. Häufig geht es nicht um die Qualität oder die Sicherstellung einer Grundversorgung, sondern vielmehr um reine Regionalpolitik. Der Wille nach politischer Steuerung in einem zunehmend wettbewerblichen Markt ist jedoch problematisch. Mit dem DRG-System wurde ein eigentliches Preissystem eingeführt. Die kantonale Spitalplanung ist in diesem System ein eigentlicher Fremdkörper, der zu einer Übersteuerung führen muss. Mittelfristig sind Konflikte zwischen den beiden Systemen vorprogrammiert.
Und die Spitäler sind der Spielball dazwischen?
Für die öffentlichen Spitäler selber muss das keineswegs in erster Linie ein Nachteil sein. Sie können sich durch die Mehrfachrolle ihres Eigentümers oft eher Vorteile im Wettbewerb mit privaten Dritten oder ausserkantonalen Spitälern erhoffen.
Bei der Verselbstständigung der Kantonsspitäler gibt es immer Protest aus dem linken politischen Lager – sind die Befürchtungen gerechtfertigt?
Die Rechtsformänderung – etwa in eine Aktiengesellschaft – wird zum Teil schon als eigentliche Privatisierung oder mindestens als Vorstufe davon angesehen. Die damit verbundenen Ängste sind oft überhöht und eher ein Ausdruck eines grundlegenden politischen Dogmas. Auch eine privatrechtliche Aktiengesellschaft kann mit einer gemeinnützigen Zweckbestimmungversehen werden und die Veräusserung oder Übertragung von Aktien an private Dritte beschränkt werden. Beides kann in den Statuten entsprechend festgelegt werden.Es gibt ja bereits heute zahlreiche private Dienstleister im Gesundheitsbereich, vor allem im ambulanten, aber eben auch im stationären Bereich. Die Erfahrungen mit diesen sind keineswegs negativ. Es zeichnet sich aber – unabhängig von den Rechtsformänderungen – keine eigentliche Privatisierungswelle in der Schweizer Spitallandschaft ab. Ob die Kantone, Gemeinden oder Bezirke ihre Aktien an Spitälern verkaufen möchten, würde wiederum an der Urne entschieden.
Könnte sich das nicht noch ändern?
Längerfristig mag es durchaus Gründe dafür geben – etwa wenn grosse Investitionen eine Erweiterung oder Änderung des Aktionärskreises nötig machen könnten oder wenn etwa eine Eingliederung in eine grössere Spitalgruppe sinnvoll ist. Kurzfristig aber dürfte der ökonomische Druck vielerorts noch gering sein. Politiker aus dem linken als auch dem rechten Lager betreiben bei der Spitalpolitik eher eine Regionalpolitik – ein Verkauf an private Investoren ist daher häufig nicht mehrheitsfähig.
Wo sehen Sie Chancen oder Grenzen von gemischten Trägerschaften (PPP)?
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten für Partnerschaften und Kooperationen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren. Dennoch sehe ich auch Grenzen, vor allem bei gemischten Trägerschaften. Oft möchte die öffentliche Hand weiterhin mindestens 50! Prozent am Eigentum behalten. Für private Investoren sind dagegen Minderheitsbeteiligungen oft mässig attraktiv, da es die strategischen Möglichkeiten zu stark beschränkt. Sie müssen jederzeit damit rechnen, dass sie bei wichtigen Entscheiden überstimmt werden und dass womöglich regionalpolitisch gewünschte statt wirtschaftlich nötige Entscheide gefällt werden.
Viele Zweckverbände wählen derzeit die Umwandlung in eine AG. Garantiert die Bildung einer Aktiengesellschaft, dass der politische Einfluss abnimmt?
Nein, die Gemeinden können auch in den neuen Strukturen Einfluss nehmen, etwa über den Verwaltungsrat und die Generalversammlung. Allerdings kann die politisch motivierte Einflussnahme vor allem dann beschränkt werden, wenn etwa der Verwaltungsrat nicht explizit durch Vertreter der Gemeinden und politischen Parteien besetzt wird.
Sie sagten 2008: «Im besten Fall sind die Spitäler unabhängige private Institutionen mit partiellen oder umfassenden Leistungsaufträgen.» Sehen Sie das immer noch so?
Ja, sogar noch mehr als 2008. Mit der neuen Spitalfinanzierung sollte die Steuerung der stationären Versorgung in erster Linie über einen Preis- beziehungsweise Marktmechanismus erfolgen. Die Politik sollte sich dagegen auf die Festlegung von effizienten Rahmenbedingungen konzentrieren. Wo die Preise keine adäquate Grundversorgung sicherstellen können, braucht es zusätzliche Leistungsaufträge. Diese aber sollten nicht etwa zur Verzerrung der marktwirtschaftlichen Mechanismen missbraucht werden – etwa zur Bevorzugung der eigenen, staatlichen Institutionen im Wettbewerb mit Dritten. Gerade deshalb ist die Rollenteilung über eine Separierung der Eigentumsverhältnisse besonders wichtig. Ein Privatisierungsprozess ist letztlich der konsequenteste Weg zu dieser Rollenteilung und Entflechtung von Interessen.
Dieses Interview erschien in der Septemberausgabe des Magazins «Competence».
Mit freundlicher Genehmigung des Magazins «Competence».
Mehr zu diesem Thema entnehmen Sie der Publikation: «Kantonsmonitoring: Spitäler zwischen Politik und Wettbewerb» (2008)