Lohnkosten variieren stark
Die Organisation der Alterspflege ist Sache der Kantone. Dieser föderalistische Ansatz ermöglicht die Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten. In dünn besiedelten Gebirgskantonen mit einer (noch) eher jungen Bevölkerung präsentiert sich die Situation anders als in engräumigen Stadtkantonen mit einem höheren Anteil von hochbetagten Pflegebedürftigen. Avenir Suisse hat in einer Studie die Organisation und die Kosten im Spitex- und im Pflegeheimbereich der Kantone verglichen und Best Practices, aber auch Optimierungspotenzial identifiziert.
Dabei kommen erhebliche Unterschiede in Bezug auf die jährlichen Pflegekosten pro 65-Jährigen und Älteren zutage. Die günstigsten Kantone können die Alterspflege bis zu 45 Prozent billiger erbringen als die teuersten. Diese Unterschiede haben drei Hauptursachen: Erstens variieren die Lohn- und Sachkosten pro Vollzeitstelle stark, selbst unter vergleichbaren Kantonen. So liegen die Lohnkosten des Pflegepersonals im Kanton Genf 38 Prozent über dem Schweizer Durchschnitt, im Kanton Zürich jedoch «nur» 7 Prozent höher, während sie im Kanton Basel-Stadt ungefähr dem Schweizer Durchschnitt entsprechen. Zweitens ist die Effizienz des Personaleinsatzes unterschiedlich. Im Kanton Wallis benötigt man 40 Prozent weniger Personal pro erbrachte Pflegestunde als im Kanton Schaffhausen. Und drittens variiert der Anteil der Bevölkerung, der professionelle Pflegeleistungen bezieht, zwischen einzelnen Kantonen um mehr als den Faktor zwei.
Gelänge es, sich im Spitex- wie im Pflegeheimbereich von den besten Kantonen inspirieren zu lassen, wäre das Optimierungspotenzial substanziell. In Franken ausgedrückt: Es liessen sich jährlich 1,9 Milliarden Franken einsparen, wenn alle Organisationen mindestens so effizient arbeiten würden wie der Schweizer Durchschnitt. Dies entspricht 17 Prozent der heutigen Ausgaben von 11 Milliarden Franken für die Alterspflege. Werden die Einsparungen nicht realisiert, werden die Pflegeausgaben Investitionen in Bildung oder Infrastrukturen zunehmend verdrängen. Die Optimierung auf dem Niveau des Schweizer Durchschnitts würde auch eine Reduktion der Anzahl Arbeitsplätze um 12 000 bis 14 000 Stellen bedeuten. Niemand muss jedoch um seinen Job bangen: Gemäss Bundesrat werden bis 2020 aufgrund der Alterung der Gesellschaft zusätzliche 17 000 Stellen im Gesundheitssektor nötig. Dazu kommen 60 000 Stellen, um Pensionierungen zu kompensieren. Dank der Realisierung des Sparpotenzials könnte der Fachkräftemangel entschärft werden. Die Ausbildung Tausender von Pflegefachpersonen an Schweizer Hochschulen oder ihre Rekrutierung im Ausland wäre hinfällig.
Die Qualität leidet nicht
Die Qualität der Pflege würde mit diesen Massnahmen nicht beeinträchtigt. Unser Benchmark ist der Schweizer Durchschnitt – und der ist in der Schweiz gut. In einer Umfrage der Universität Basel bei 160 zufällig gewählten Pflegeheimen in allen Landesregionen beurteilen 93 Prozent der 5000 befragten Pflegepersonen die Pflegequalität in ihrer Institution als gut oder sehr gut. Wie lässt sich das Sparpotenzial konkret realisieren? Im Schweizer Durchschnitt benötigten 2014 30 Prozent der Heimpensionäre weniger als 60 Minuten Pflege pro Tag. Die Kantone Zürich (39 Prozent), Thurgau (37) und Aargau (35) verzeichnen überdurchschnittliche Werte bei Patienten, für die eine ambulante Behandlung denkbar wäre. Umgekehrt ist die Spitex nicht immer die günstigste Lösung. Je nach Situation werden ab 60 Minuten Tagespflege Patienten in einem Heim kostengünstiger betreut als zu Hause, weil das Fachpersonal so nach seinen Kompetenzen eingesetzt werden kann und Reisezeiten entfallen. Bessere Informationen über die Pflegeangebote – kombiniert mit einem Ausbau ambulanter Angebote – würden helfen, leicht pflegebedürftige Personen zu Hause, in betreuten Wohnungen oder in Tagesstrukturen, die schwer Pflegebedürftigen hingegen in Heimen zu pflegen. Es braucht also eine Strategie mit dem Ansatz «ambulant mit stationär» statt «ambulant vor stationär».
Die Optimierung der Alterspflegekette entlang den wechselnden Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen ist nicht nur Kür. Wegen der personellen und finanziellen Herausforderungen der alternden Gesellschaft ist sie Pflicht. Die Kantone müssen sich dieser Aufgabe annehmen.
Dieser Beitrag ist in der NZZ vom 11.8.2016 erschienen.