Die Schweiz hat im Rahmen der Efta kürzlich ein Freihandelsabkommen mit Indien unterzeichnet. Das bevölkerungsreichste Land der Welt gilt für viele westliche Staaten als hoffnungsvolle Alternative zum zunehmend autoritären China. Der Abschluss ist zweifelsohne ein Erfolg, doch ohne Konzessionen ging es nicht. In einem nächsten Schritt wird sich auch das Parlament mit dem Abkommen befassen, dem der Bundesrat diese Woche die Botschaft überwiesen hat.

Nachdem sich der erste Teil dieses zweiteiligen Blogs mit den Hintergründen des Investitionskapitels beschäftigt hat, widmet sich dieser Teil dem Waren- und Dienstleistungshandel im Trade and Economic Partnership Agreement (Tepa). Hier zeigt sich, dass das Tepa im Vergleich zu anderen Abkommen der Efta sowohl in der Breite als auch in der Tiefe weniger weit geht.

First Mover

Mit dem Tepa erhofft sich die Efta einen «First Mover Advantage» gegenüber anderen westlichen Handelspartnern. Durch die Senkung der Zölle für Industrie- und teilweise Agrarprodukte verschafft sich die Efta einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der EU, Grossbritannien oder Kanada, die noch über kein Abkommen verfügen. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die ersten Länder, die ein Freihandelsabkommen abschliessen, auch Lehrgeld zahlen. Die nachfolgenden Staaten profitieren dann von den Erfahrungen und Fehlern des Pioniers.

In diesem Kontext ist bemerkenswert, dass Indien bereit ist, seine protektionistische, auf Eigenproduktion ausgerichtete Tradition ein Stück weit aufzugeben. Das Land hat bereits Freihandelsabkommen mit Australien und den Vereinigten Arabischen Emiraten verhandelt. Die teilweise seit 2010 andauernden Verhandlungen mit Grossbritannien, der EU oder Kanada zeigen, dass Indien seine Handelspolitik nicht nur auf regionale Partner ausrichtet, sondern bewusst Partnerschaften mit westlichen Staaten anstrebt.

Indien erhofft sich dadurch auch einen Vorteil gegenüber dem Rivalen China. Weiter möchte es seinen Platz in den internationalen Lieferketten absichern und seine Position als Drehscheibe zwischen der arabischen Halbinsel und den asiatischen Tigerstaaten stärken.

Waren für Indiens Mittelstand: Chance für die Schweizer Industrie

Der bilaterale Warenhandel zwischen Indien und der Efta kam in der letzten Dekade nur bedingt auf Touren. Zwar konnte das Handelsvolumen seit 2003 versechsfacht werden (siehe Grafik). Der Anteil Indiens an den weltweiten Exporten und Importen der EFTA  ist jedoch in den letzten zwanzig Jahren nur geringfügig gestiegen und hat nie die 1%-Marke überschritten.

Warenhandel zwischen der Efta und Indien: Export-Wachstumsrate von 5,3% während der letzten 5 Jahre.

Die hohen indischen Zölle bremsten eine breite Produktdiversifizierung, da diese die Kosten für die importierten Waren erhöhen und somit den Zugang zu einer breiteren Auswahl internationaler Produkte einschränken. Dies hat konkrete Auswirkungen auf die Handelsstrukturen beider Seiten. Beispielsweise machen organische Chemikalien über 30% der indischen Exporte aus. Gold, das im Gegensatz zu Indiens Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten de facto vom Abkommen ausgeschlossen ist, macht über 80% der Efta-Exporte aus.

Tepa soll hier eine Trendwende einleiten. Produkte wie Maschinen, Uhren und Chemikalien werden künftig vom verbesserten Marktzugang profitieren und in Indien einen wachsenden Absatzmarkt vorfindenfinden. Insgesamt verbessert sich der Marktzugang für rund 94,7% der heutigen Schweizer Warenexporte (gemessen am Warenwert). In den für die Pharmaindustrie wichtigen Fragen des geistigen Eigentums entspricht der Schutz dem WTO-Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (Trips). Geringfügig überschreitet er aber das bisherige Nivevau.

Güterhandel: Lückenhafte Liberalisierung?

Auch wenn Zollsenkungen den Handel diversifizieren, können die länderspezifischen Konzessionslisten diese Effekte abschwächen. So gewährt Indien der Schweiz, Norwegen und Island beispielsweise Konzessionen bei Milchprodukten, Pharmazeutika, Textilien und optischen Geräten.  Für Schokolade, Trinkschokoladepulver, Schokoladenüberzug und Kaffekapseln gewährt Indien nur der Schweiz Marktzugang, Norwegen aber nicht.

Gewisse Handelsexperten haben das Abkommen deshalb als problematisch bezeichnet. Natürlich wäre eine weitergehende Öffnung wünschenswert gewesen. Solche Ausnahmen erschweren den Unternehmen den Marktzugang und damit den Aufbau neuer Lieferketten. Hinzu kommt das Bestreben Indiens, die vereinbarten Zollreduktionen häufig nicht sofort nach Inkraftreten, sondern gestaffelt abzubauen. So werden einige Zölle erst nach fünf oder zehn Jahren gesenkt oder abgeschafft.

Ähnlich wie bei der Investitionsförderung muss aber auch hier ein pragmatischer Massstab angelegt werden. Ein historisch sehr protektionistisches Land wie Indien kann wohl nur kleine Öffnungsschritte machen. So dürfte Indien viele Agrarprodukte auf den Konzessionslisten gestrichen haben, da es sich auch immer wieder mit Bauernprotesten konfrontiert sieht. Da Indiens Zölle immer noch relativ hoch sind, werden die jährlichen Einsparungen für die Efta-Exporteure durch Zollsenkungen trotzdem erheblich sein. Obwohl in Indien eine wachsende, gut ausgebildete Mittelschicht mit entsprechender Kaufkraft von einer weitergehenden Öffnung gegenüber der Efta profitiert hätte, beliessen es die Unterhändler wohl mit Blick auf die soziale Ungleichheit beim Kompromiss.

Dienstleistungen: Selektive Berufsanerkennungen

Mit Blick auf die Dienstleistungen kann mit dem Tepa sicherlich von einer Aufwertung des Gats-Engagements (internationales Abkommen der WTO zum Dienstleistungshandel) gesprochen werden. Tepa hätte auch dazu dienen können, dem Fachkräftemangel in der Schweiz, z.B. in der Informationstechnologie, teilweise entgegenzuwirken. Im Vergleich zu den multilateralen Verpflichtungen, die Indien in der WTO eingegangen ist, zeigt der Vertragstext jedoch nur sehr geringe Handelsvorteile im sogenannten Mode 4 (Dienstleistungen, bei denen sich eine natürliche Person vorübergehend in einen anderen Staat begibt).

Denn während China als Produktionsstandort bekannt ist, gilt Indien in Europa und weltweit aufgrund aufgrund seiner globalen Vernetzung als Dienstleistungsdrehscheibe. Verschiedene Handelspartner Indiens, wie z.B. Australien, nutzen Mode 4, um dem heimischen Fachkräftemangel zu begegnen.

Indien scheint jedoch eine andere Strategie zu verfolgen, um seine Fachkräfte in die westlichen Industrieländer zu bringen: Statt auf Mode 4 hinzuarbeiten, drängt Indien zunächst auf den Abbau von Genehmigungs- und Lizenzierungserfordernissen.

Anschliessend würden die Efta-Staaten gemeinsam mit den Berufsverbänden über die Zulassungskriterien und den Vergleich der Diplome und Abschlüsse je nach Sektor verhandeln. Dies könnte in einigen Jahren zu einer Änderung des Abkommens oder zumindest zu einem Anhang mit einer Liste anerkannter Berufsqualifikationen führen.

Interessant ist hier der Vergleich mit den Abkommen, die Indien mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Australien abgeschlossen hat (vgl. Box). Während dasjenige mit Australien die Berufe und Branchen für die gegenseitige Anerkennung klar benennt, sollen laut Tepa innerhalb von zwei Jahren Mechanismen für reglementierte Berufe von «gegenseitigem Wirtschaftsinteresse» vereinbart werden. Ziel ist es, für diese Berufe im Rahmen eines Anhanges indische Diplome ohne vertiefte Einzelfallprüfung anzuerkennen.

Die Bemühungen der Efta unterschieden sich je nach Nähe zur EU

Die Efta bemüht sich, Indien den Zugang zu ihrem Markt im Dienstleistungsbereich zu erleichtern. Zum Beispiel öffnet sich einzig Norwegen für Fachkräfte der traditionellen indischen Medizin (Ayurveda).

Norwegen geht bei den Praktikanten, auch Stagiaires genannt, einen eigenen Weg und übernimmt die EU-Kategorie der «Graduate Trainees» und hält sich damit an die Handelsabkommen der EU. Die Schweiz hat kein eigenes Stagiaire-Abkommen mit Indien und ist generell zurückhaltend bei der Zulassung von Praktikanten aus Nicht-EU-Staaten, da diese Kategorie zu den ausnahmsweise zugelassenen Drittstaatsangehörigen gehört.

Personenmobilität in den FHA von Indien
ZulassungsbewilligungAnerkennung der Berufsabschlüsse und DiplomeSektorielle Meistbegünstigung
Ecta
(Indien-Australien)
Working holiday maker Visum und post-Studium-Visuminnert 12 Monate nach Inkrafttreten für regulierte Berufe in ‘gegenseitigem Interesse’ Ja -> Zugang zu RCEP
Cepa
(Indien-Vereinigte Arabische Emirate)
Arbeitsbewilligung für die Partner und Kinder von Dienstleistungserbringerinnert ‘nützlicher Frist’ für aufgelistete Berufe: Architekten, Ingenieure, Ärzte , Tierärzte und Zahnärzte, Buchhalter und Revisoren, Krankenpflege, und Betriebssekretariat nein
Tepa
(Indien-Efta)
Graduate trainees (Norwegen), Arbeitsbewilligung für Ehepartner und Kinder2 Jahre nach Inkrafttreten für regulierte und lizenzierte Berufe von gegenseitigem Interesse nein

Eine Besonderheit im Ecta ist eine sektorspezifische Meistbegünstigungkausel , die besagt, dass Handelsvorteile, die einem Staat gewährt werden, auch allen anderen Vertragspartnern gewährt werden müssen. Indien kann Verhandlungen verlangen, falls Australien einem Drittstaat weitergehende Zugeständnisse macht. Umgekehrt verzichtet Indien in 31 Sektoren auf zukünftige Besserstellungen, wohingegen Australien ein Gegenrecht behält.

Im Tepa fehlt eine solche Klausel, da Indien das Tepa nicht als Steigbügel für den Beitritt zu einem grossen regionalen Abkommen nutzen möchte. Indien könnte also von der Schweiz keine besseren Marktzugangsbedingungen verlangen, wenn die Efta/Schweiz mit Malaysia oder Vietnam günstigere Bedingungen aushandelt. Umgekehrt dürfte die Schweiz keine Nachbesserungen verlangen, wenn Indien dem Vereinigten Königreich oder der EU bessere Bedingungen einräumt.

Partner aus Pragmatismus

Indien gilt seit langem als Hoffnungsträger der Weltwirtschaft. Beim Besuch Bill Clintons vor 24 Jahren standen noch Themen wie die nukleare Abrüstung oder der Konflikt Indiens mit dem Nachbarn Pakistan ganz oben auf der Traktandenliste. Diese Themen haben nicht an Bedeutung verloren, aber der wachsende wirtschaftliche Einfluss Indiensrückt zunehmend in den Fokus.

Mit dem Tepa ist der Schweiz und der Efta ein Erfolg gelungen – in Zeiten zunehmender sicherheits- und geopolitischer Verwerfungen auch ein Signal der Handlungsfähigkeit. Ein Abkommen, das Investitionen fördert und eine Marktöffnung nach klassischen Handelsregeln anstrebt, ist aber zwangsläufig ein Kompromiss.  Beim Handel mit Gütern und Dienstleistungen hätte das Tepa im Vergleich zu anderen Freihandelsabkommen der Efta sowohl stärker in die Breite (Einbeziehung von Gold, aller Agrarprodukte und mehr Dienstleistungssektoren) als auch in die Tiefe (sektorspezifische Meistbegünstigungkausel, Nullzölle ab Inkrafttreten) gehen können.

Der praktische Nutzen dieser Partnerschaft liegt weniger im Zollabbau des Freihandels als in der Rechtssicherheit für Efta-Investoren, die in Indien bessere Bedingungen vorfinden werden. Letztlich tragen die Zugeständnisse Indiens  immer noch die Handschrift einer agrarisch dominierten Wählerschaft – trotz Mondflug und beeindruckenden Wachstumsprognosen.

Teil 1: «Die Schweiz geht mit Indien eine Wette ein».