Will die Schweiz die Zuwanderung bremsen, muss sie auch ihre Steuer- und Standortpolitik überdenken. Dies meint Daniel Müller-Jentsch von Avenir Suisse, der Steuergeschenke für ausländische Firmen kritisiert.
Die Tatsache, dass die Schweiz in diesem Sommer die Marke von acht Millionen Einwohnern erreichen wird, hat die Zuwanderungsdebatte neu lanciert. Nebst den üblichen Forderungen der Parteien – etwa der SVP, die die Zuwanderung generell einschränken möchte – rückt folgende Frage in den Fokus der Debatte: Inwiefern kann die Steuer- und Standortpolitik Einfluss auf die Zuwanderung nehmen?
Die SP verlangte bereits in ihrem Positionspapier, das sie im vergangenen Frühling in die Vernehmlassung schickte, eine Abkehr von der «ruinösen, auf Steuerdumping ausgerichteten Standortpolitik» in der Schweiz. Eine überraschend ähnliche Haltung vertritt der liberale Thinktank Avenir Suisse. «Wir sind allerdings nicht der Ansicht, dass sich die Schweiz mit einer Senkung der Standortattraktivität für Ausländer selber schwächen soll», sagt Daniel Müller-Jentsch, Projektleiter von Avenir Suisse, um sich von der SP abzugrenzen. Er stellt vielmehr die Frage, ob es wirklich nötig sei, dass die Schweiz im Ausland ein durch Steuergelder subventioniertes Standortmarketing betreibt?
Akzeptanz der Personenfreizügigkeit erhalten
Der Ökonom, der sich schwerpunktmässig unter anderem mit Zuwanderung und Raumplanung befasst, vertritt die Meinung, dass die Schweiz dank des intensiven Standortwettbewerbs zwischen Kantonen und Gemeinden attraktiv genug sei. «Der interne föderale Wettbewerb ist das Trainingslager, in dem sich die Schweiz fit macht für den globalen Standortwettbewerb», sagt Müller-Jentsch. «Daher benötigt sie über die guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hinaus kein zusätzliches ‹Standortdoping› in Form von staatlichem Standortmarketing und firmenspezifischen Subventionen.» In einer weniger offensiven Steuer- und Standortpolitik sieht Avenir Suisse einen der Hebel, um die Zuwanderung abzuschwächen und gleichzeitig die Akzeptanz der Personenfreizügigkeit in der Bevölkerung zu erhalten.
Nicht nur bezüglich des Tempos der Zuwanderung, sondern auch aus ordnungspolitischer Sicht sei ein staatlich finanziertes, aktives Standortmarketing abzulehnen, sagt Müller-Jentsch. Er plädiere keinesfalls für die Abschaffung von Standortmarketingorganisationen, wie zum Beispiel der Greater Zurich Aera (GZA). Diese seien sinnvoll, wenn sie als sogenannte One-Stop-Shops geführt würden – also als Anlaufstellen, die ausländischen Unternehmen bei allen bürokratischen Schritten in der Schweiz helfen. Sie sollten aber auf Werbeaktivitäten im Ausland verzichten, um die bereits hohe Standortattraktivität der Schweiz nicht zusätzlich zu propagieren. Gerade die boomenden Metropolitanregionen in der Schweiz brauchten kein Standortmarketing im Ausland.
Fragwürdige Unterstützung für ausländische Unternehmen
Im Weiteren spricht sich Müller-Jentsch gegen Steuergeschenke aus, die Kantone einzelnen ausländischen Unternehmen gewähren, wenn sich diese in der Schweiz ansiedeln. Auch solche firmenspezifischen Subventionen seien ordnungspolitisch fragwürdig. Steuererleichterungen dieser Art gab es bisher, gestützt auf den sogenannten Bonny-Beschluss, vor allem in den Kantonen Schaffhausen, Freiburg, Neuenburg und Waadt. Der Zweck des Bonny-Beschlusses war, die Wirtschaft in strukturschwachen Kantonen zu fördern. Laut Müller-Jentsch hat dies aber zu Fehlentwicklungen geführt, die aus gesamtwirtschaftlicher Sicht nicht wünschenswert sind.
Welche Auswirkungen offensives Standortmarketing und regionalpolitisch motivierte Steuererleichterungen auf die Zuwanderung haben, ist bisher nicht ausreichend erforscht worden. Es fehlen verlässliche Zahlen und Fakten. Hinweise ergeben sich aus einer Erhebung der Konferenz der kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren oder auch aus einem Bericht der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Gemäss der «Neuen Zürcher Zeitung» zeigen bisherige Studien, dass die Anzahl von Zuzügern im Zusammenhang mit neuangesiedelten Firmen gemessen an der Gesamteinwanderung bescheiden ist.
Grössere Kostenwahrheit in der Verkehrspolitik nötig
Daher sieht Müller-Jentsch die Steuer- und Standortpolitik auch nur als einen von mehreren Hebeln, die der Politik zur Verfügung stehen, um das Tempo der Zuwanderung zu drosseln und damit die negativen Begleiterscheinungen des Bevölkerungswachstums – Verkehrsüberlastung, Wohnungsknappheit oder Zersiedelung – zu mildern. Die Zuwanderungsdebatte sei eine Chance, längst fällige Reformen anzugehen.
Zu diesen Reformen, die Avenir Suisse vorantreiben möchte, gehört zum Beispiel ein griffiges Instrumentarium zur Steuerung der Siedlungsentwicklung, wie es in der laufenden Revision des Raumplanungsgesetzes vorgesehen ist. Oder auch grössere Kostenwahrheit in der Verkehrspolitik, um die Übernachfrage – verursacht durch Subventionen – zu senken und Investitionen in den Kapazitätsausbau zu finanzieren.
Dieser Artikel erschien im «Tages-Anzeiger» vom 8. August 2012.