In der Schweiz wird mittlerweile seit gut zehn Jahren über die Einführung von Sammelklagen diskutiert. Dabei scheint die Sache auf den ersten Blick doch denkbar einfach zu sein: Wer andere schädigt, soll gerechten Ausgleich schaffen. Gerade der VW-Abgasskandal hat jedoch jüngst wieder gezeigt, dass die Betroffenen hierzulande auf ihren Schäden sitzenbleiben. Gleichzeitig besteht auch weitgehend Einigkeit, dass wir uns in der Schweiz keine amerikanischen Verhältnisse wünschen, wo jeder jeden jederzeit vor Gericht zerren kann. Entschädigungen in Millionenhöhe, weil man sich beim Versuch, ein Glas Erdnussbutter zu öffnen, in den Finger geschnitten oder im Fastfood-Restaurant am Kaffee verbrannt hat, sind unserer Rechtstradition fremd.
Anlässlich des 13. Wettbewerbspolitischen Workshops von Avenir Suisse haben verschiedene Expertinnen und Experten darüber diskutiert, ob nicht auch in der Schweiz die Zeit reif ist, um Sammelklagen einzuführen, oder ob das Risiko von missbräuchlichen Klagen mit entsprechenden Kosten und negativen Auswirkungen auf Rechtssystem, Gesellschaft und Wirtschaft zu gross ist.
Sammelklagen kaum mehr aufzuhalten
Im Rahmen eines ersten Input-Referats erläuterte Urs Hoffmann-Nowotny, Partner im Fachbereich «Dispute Resolution» bei der Anwaltskanzlei Schellenberg Wittmer, die geplante Revision im Bereich des kollektiven Rechtsschutzes in der Schweiz. Die heutige Verbandsklage soll dabei einerseits auf sämtliche Materien des Privatrechts ausgedehnt werden. Andererseits soll sie neu auch eine kollektive Durchsetzung von Ansprüchen auf Schadenersatz und Gewinnherausgabe im Falle von Streu- und Massenschäden ermöglichen. Zusätzlich sollen künftig unter gewissen Umständen auch kollektive gerichtliche Vergleiche ausserhalb der Verbandsklage – und zwar auf einer Opt-out-Basis (vgl. hierzu die Box) – möglich sein.
Insgesamt vertrat Hoffmann-Nowotny die Ansicht, dass Sammelklagen auch in der Schweiz nicht mehr aufzuhalten seien, die vom Bundesrat vorgeschlagene Revision jedoch einen gemässigten institutionellen Rahmen zu deren Einführung biete. Dabei sei nicht damit zu rechnen, dass die Schweizer Gerichte ihre bisherige Zurückhaltung bei der Zusprechung von nicht quantifizierbaren Schadenspositionen nach Umsetzung der geplanten Revision aufgeben würden.
Opt-in- vs. Opt-out-Sammelklagen
Sammelklagen sind zivilrechtliche Klagen, die nicht nur über die Ansprüche der eigentlichen Kläger entscheiden. Vielmehr erstreckt sich ihre Rechtskraft auch auf Personen, die in gleicher Weise wie der Kläger vom Sachverhalt betroffen sind. Und zwar unabhängig davon, ob sie selbst geklagt haben oder nicht. Grundsätzlich lassen sich zwei Typen von Sammelklagen unterscheiden:
- Opt-in-Sammelklagen: Bei einer Opt-in-Sammelklage müssen sich die Betroffenen einer Klage aktiv anschliessen. Es braucht also ein ausdrückliches Einverständnis, Teil der Klägergruppe zu sein.
- Opt-out-Sammelklagen: Eine Opt-out-Sammelklage charakterisiert sich hingegen dadurch, dass alle Betroffenen automatisch an der Sammelklage beteiligt sind. Wer nicht beteiligt sein will, muss dies explizit zum Ausdruck bringen.
Opt-out-Sammelklagen gelten als attraktiv, da für Gruppen geklagt werden kann, die unter Umständen Millionen von Menschen umfassen und daher hohe Streitwerte im Spiel sind. In der Praxis sind sie allerdings für Begünstigte und Beklagte oft teuer, langwierig und zeitraubend. Auch haben die Betroffenen selbst keinerlei Mitsprache.
Deutlich kritischer gegenüber der Einführung von Sammelklagen in der Schweiz äusserte sich Dr. Herbert Woopen, Director of Legal Policy des European Justice Forum (EJF). In seinem Input-Referat hob er hervor, dass Sammelklagen in Europa immer häufiger auch dazu verwendet werden, um Anliegen zur Veränderung der Gesellschaft – etwa im Bereich des Klimaschutzes – gerichtlich durchzusetzen, was die Gefahr einer Aushebelung von demokratisch legitimierten Entscheiden birgt. Grundsätzlich sei in der EU in jüngster Vergangenheit eine massive Zunahme von Sammelklagen zu beobachten: Wurden 2018 noch 55 Sammelklagen eingereicht, zählte man 2022 bereits über 120 Fälle. Besonders stark ist die Zunahme in Ländern wie Grossbritannien und den Niederlanden, die Opt-out-Sammelklagen (vgl. Box) zulassen.
Neben der Digitalisierung, welche die Organisation von Sammelklagen generell vereinfacht, scheint die zunehmende Prozessfinanzierung durch professionelle Dritte ein wichtiger Treiber dieser Entwicklung zu sein. Sammelklagen – so die Befürchtung – führen nicht zwingend und in jedem Fall zu mehr Gerechtigkeit, sondern befeuern vor allem eine profitorientierte Klageindustrie. Um diesem Problem zu entgehen, schlägt Woopen vor, sich mehr an den nordischen Modellen zu orientieren: In Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden ist jeweils eine staatliche Ombudsstelle für die Durchsetzung des Verbraucherrechts zuständig, wobei diese als Ultima Ratio eine Kollektivklage anstreben kann. In diesem Sinne liesse sich der schweizerische Revisionsvorschlag deutlich verbessern – auch durch eine Regulierung der Prozessfinanzierung. [1]
Geplante Stärkung von «Follow-on-Klagen»
Im letzten Referat, das gemeinsam von Mario Strebel und Fabian Koch (beide Gründungspartner von CORE Attorneys) gehalten wurde, lag der Fokus auf der Schnittstelle zwischen Sammelklagen und Kartellrecht. Diese führten aus, dass die aktuell diskutierte Teilrevision des Kartellgesetzes zivilrechtlich vor allem zu einer Stärkung von sog. Follow-on-Klagen führen würde, d.h. zivilrechtlichen Klagen im Fahrwasser von kartellrechtlichen Untersuchungen der Wettbewerbskommission (Weko). Neu sollten zudem alle, die von einer unzulässigen Wettbewerbsbeschränkung betroffen sind – auch Konsumentinnen und die öffentliche Hand –, klageberechtigt sein. Instrumente des kollektiven Rechtschutzes seien aber im Rahmen der Teilrevision keine vorgesehen.
Nach Ansicht von Strebel und Koch könnten mit der geplanten Ausweitung der Klageberechtigung auf Konsumentinnen Sammelklagen oder vergleichbare Instrumente zukünftig vermehrt auch im Kartellrecht zur Anwendung gelangen. Grund hierfür sei, dass Schäden von unzulässigen Wettbewerbsbeschränkungen regelmässig auf die Konsumenten abgewälzt und diese nur im Verbund mit anderen Betroffenen klagen würden. Wenngleich die aktuell diskutierte Lösung einer erweiterten Verbandsklage vergleichsweise moderat erscheine, sei bei deren weiteren Ausgestaltung darauf zu achten, dass Rechtsmissbrauch ausgeschlossen und die verwaltungsrechtliche Durchsetzung des Kartellgesetzes durch die Weko nicht geschwächt wird. So hat sich insbesondere in anderen europäischen Ländern gezeigt, dass die Einführung von Sammelklagen die Bereitschaft der Unternehmen, Selbstanzeigen bei den Wettbewerbsbehörden einzureichen, spürbar reduziert hat.
Einigkeit im Grundsatz
Darüber, dass der Grundsatz «Wer andere schädigt, soll gerechten Ausgleich schaffen» auch gelten soll, wenn eine Vielzahl von Personen gleichzeitig von – auch wertmässig kleinen – Schäden betroffen ist, bestand unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Wettbewerbspoltischen Workshops weitgehend Einigkeit. Was hingegen der beste Weg ist, dieses Ziel zu erreichen, wurde kontrovers diskutiert. Gerade auch bezüglich der Frage, ob der Finanzierung von Sammelklagen durch Dritte regulatorische Grenzen zu setzen sind, waren die Meinungen unterschiedlich. Von ökonomischer Seite wurde zudem darauf aufmerksam gemacht, dass auch die dynamischen Anreize eines solchen neuen Regimes nicht ausser Acht gelassen werden sollten. So könnte sich eine allzu klägerfreundliche Ausgestaltung von Sammelklagen nachteilig auf Investitions-, Innovations- und Standortentscheide von Unternehmen auswirken.
Auf wohlwollendes Interesse stiess das nordische Modell mit den Ombudsstellen als «staatliche Hüter der Verbraucherrechte». Zurecht wurde aber eine gewisse Skepsis gegenüber der Schaffung neuer staatlicher Behörden geäussert. Es müsste sichergestellt werden, dass sich eine staatliche Ombudsstelle nicht vorwiegend auf Fälle konzentriert, die hohe Erfolgschancen versprechen und medienwirksam inszeniert werden können. Auch wäre eine effektive gerichtliche Kontrolle sicherzustellen, um (Macht-) Missbrauch zu verhindern.
[1] Zu den möglichen Verbesserungsvorschlägen am schweizerischen Reformvorschlag und den nordischen Modellen, vgl. H. Woopen, Verbandsklagen in der Schweiz, Schweizerische Juristenzeitung (SJZ) 2022, 626-637.
Zu den Präsentationen der Referenten: Urs Hoffmann-Nowotny, Herbert Woopen, Mario Strebel und Fabian Koch
Stimmen zum diesem Anlass finden Sie in unserem Video-Beitrag «Wettbewerbspolitscher Workshop zum Thema Sammelklagen»