Die Harmonisierung des Rentenalters auf 65 Jahre für Männer und Frauen ist die Flaggschiffmassnahme des bundesrätlichen Reformprojekts der ersten Säule (AHV 21). Die Anpassung ist auch eine der umstrittensten: Bei Linken und insbesondere bei den Gewerkschaften stösst sie auf erbitterten Widerstand. Aber warum gehen Frauen überhaupt früher in Rente als Männer?
Von Männern beschlossene Senkung
Historisch gesehen gab es diese Ungleichheit nicht immer: Als 1948 die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) eingeführt wurde, lag das Rentenalter sowohl für Frauen als auch für Männer bei 65 Jahren. Letztere – Frauen waren noch nicht stimmberechtigt –beschlossen mit der 4. AHV-Revision 1957 eine Senkung des Frauenrentenalters auf 63 Jahre. Mit der 6. Revision 1964 wurde die Eintrittsschwelle sogar auf 62 Jahre herabgesetzt. Böse Zungen behaupten, dass die Männer, die oft älter als ihre Frauen waren, im Ruhestand nicht allein gelassen werden wollten. Die damalige Botschaft des Bundesrates bietet wenig Informationen zu diesem Thema, aber die vorgebrachten Argumente sind ernüchternd:«Physiologisch betrachtet ist die Frau vielfach trotz ihrer höheren Lebenserwartung dem Mann gegenüber im Nachteil.» Dieses Argument dürfte heute kaum mehr überzeugen.
Mit der AHV-Revision von 1997 wurde das Rentenalter für Frauen schrittweise von 62 wieder auf 64 Jahre angehoben. Die damals als «Frauenrevision» bezeichnete Reform ermöglichte den Zugang zur Altersvorsorge unabhängig vom Zivilstand und anerkannte die Arbeit der Kindererziehung. Die 11. Revision hätte die Ungleichheit beim Rentenalter beinahe korrigiert und wäre zur Situation von 1948 zurückgekehrt. Doch die Ablehnung in der Volksabstimmung von 2004 brachte den Harmonisierungsprozess zum Stillstand. Erneute Versuche, das Rentenalter für Frauen anzuheben, scheiterten in der Schlussabstimmung im Parlament 2011 und vor dem Volk 2017. Fast ein Vierteljahrhundert nach der letzten AHV-Reform ist das Thema immer noch ungelöst und die Lebenserwartung der Frauen unterdessen um drei Jahre gestiegen.
Die Schweiz hinkt international hinterher
Auch in anderen, mit der Schweiz vergleichbaren Ländern gab es in der Vergangenheit unterschiedliche Rentenalter für Frauen und Männer. Bis 2018 hatten jedoch nur fünf OECD-Staaten noch nicht beschlossen, das Rentenalter anzugleichen: Ungarn, Israel, Polen, die Türkei und die Schweiz. Unser Land ist also Teil der «fünf Freunde», die nicht alle als Vorbilder in Sachen Gleichstellung gelten können.
Seit 2008 haben zehn OECD-Länder im Rahmen ihrer jeweiligen Reformen das Rentenalter harmonisiert. Dabei gibt es zwei Ansätze: Die einen Staaten gleichen zuerst das Rentenalter der Frauen an das der Männer an (z.B. im Alter von 65 Jahren) und heben es anschliessend stufenweise zum Beispiel auf 67 oder 68 Jahre an. Diese Methode wird von Ländern wie Australien, Österreich, Belgien und dem Vereinigten Königreich angewandt (vgl. Tabelle).
Der zweite Ansatz besteht darin, für beide Geschlechter das gleiche Zielalter zu definieren, jedoch mit unterschiedlichem Tempo für Männer und Frauen ans Ziel zu gelangen. Unsere italienischen Nachbarn haben zum Beispiel eine Reform durchgeführt, die eine schrittweise Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre für beide Geschlechter bis 2019 vorsah. Zuvor gingen Frauen mit 60 und Männer mit 65 Jahren in den Ruhestand. Die Slowakische und die Tschechische Republik, Litauen und Japan verfolgten einen ähnlichen Ansatz.
Harmonisierung des Rentenalters in OECD-Staaten, die eine Reforme seit 2008 eingeführt haben | ||||||
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Ansatz | Land | Frauenrentenalter vor der Reform | Angleichung des Rentenaltersalters an das der Männer | Zielalter für beide Geschlechter | Übergangszeit (Jahren) | Intensität (Monate pro Jahr) |
Angleichen und zusammen erhöhen | Australien Österreich Belgien Vereinigtes Königreich Slovenien | 60 64 60 61 | 65 65 65 62 | 67 67 68 62 | 9 3 8 3 | 6.6 4 7.5 4 |
Zusammen erhöhen aber im unterschiedlichen Tempo | Italien Japan Litauen Slowakische Republik Tschechische Republik | 60 62 57 62 | 65 65 62 65 | 65 65 64 65 | 12 8 10 18 | 5 5 6 2 |
AHV 21 | Schweiz | |||||
Quelle : OECD, eigene Berechnungen |
Zehneinhalb Monate mehr pro Jahr in Italien über acht Jahre
Einige Staaten verlangen den Frauen grosse Anstrengungen ab (vgl. Tabelle). Österreich plant, das Rentenalter zwischen 2024 und 2033 von 60 auf 65 Jahre anzuheben, was einer Erhöhung um mehr als sechs Monate pro Jahr über neun Jahre entspricht. Im Vereinigten Königreich ist die Eintrittsschwelle zwischen 2010 und 2018 von 60 auf 65 Jahre gestiegen, was siebeneinhalb Monaten pro Jahr während acht Jahren entspricht. Die rasanteste Umstellung war jedoch in Italien zu verzeichnen, wo der Anstieg von 60 auf 67 Jahre innert acht Jahren erfolgte, was zehneinhalb Monaten pro Jahr entspricht. Dieses Tempo dürfte auf demografische Ungleichgewichte zurückzuführen sein, die kritischer sind als anderswo: Der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung ist in diesen Ländern höher als im OECD-Durchschnitt.
Weniger abrupt vorgegangen sind Länder wie Australien und Belgien, die ihre jeweiligen Reformen früher begonnen haben, oder die Tschechische Republik. Tatsächlich erhöht die Tschechische Republik das Rentenalter lediglich um zwei Monate pro Jahr. Zum Vergleich: In der Schweiz ist mit der AHV 21 eine sehr sanfte Erhöhung von 64 auf 65 Jahre in vier Jahren vorgesehen. Das heisst, das Frauenrentenalter würde pro Jahr um drei Monate steigen.
Reiche, mit der Schweiz vergleichbare Staaten haben es geschafft, das Thema aufzugreifen und ihre Rentensysteme zu reformieren – es ist ein klarer Trend zur Harmonisierung auszumachen. Reformen sind umso dringlicher, als Indikatoren wie die Lebenserwartung und die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu den höchsten der Welt gehören. Nach zwanzig Jahren Diskussion ist es höchste Zeit, den Sprung zu wagen.