Das Totengeläut für ein einmaliges Kennzeichen der Schweizer Politik wird immer lauter: die ehrenamtliche und ausserberufliche Tätigkeit von Bürgerinnen und Bürgern in Regierungen und Verwaltungen. Eine Denkfabrik aus Zürich verlangt nun eine Art «Bürgerdienst für alle», um das so genannte Milizsystem am Leben zu erhalten.
Das Buch der Denkfabrik Avenir Suisse ist 200 Seiten stark, und es zeichnet anhand der erhältlichen Zahlen ein düsteres Bild der politischen Realität in den über 2300 Gemeinden und 26 Kantonen der Schweiz.
Während fast zwei Dekaden hat die Freiwilligenarbeit für ein politisches Amt auf lokaler oder regionaler Ebene – oft neben einem Vollzeit-Job ausgeübt– stetig abgenommen. Heute wird geschätzt, dass zwei von drei Gemeinden Mühe haben, Bürgerinnen und Bürger zu finden, die ihnen dienen wollen.
Paradoxerweise erfreue sich aber das politische Milizsystem der Schweiz in Meinungsumfragen weiterhin grosser Wertschätzung, so Avenir Suisse. Trotzdem illustrieren zwei Beispiele mit ungewöhnlichen Kandidaten die Schwierigkeiten vieler kleiner Gemeinden, willige Bürgerinnen und Bürger für ihre Behörden zu finden, sprich Regierungen, Kommissionen und Verwaltungen.
In der Bündner Gemeinde Sedrun soll ein Mann, der in einem anderen Teil des Landes lebt und arbeitet, im Bergsportort aber ein Ferienhaus besitzt, im März zum Bürgermeister gewählt werden – er ist der einzige Kandidat.
Und im thurgauischen Hüttlingen – einer Ostschweizer Bauerngemeinde mit 800 Einwohnerinnen und Einwohnern – hat das Stimmvolk einen Mann aus Deutschland zum Bürgermeister gewählt, nur Monate, nachdem dieser den Schweizer Pass erhalten hatte.
Berufsparlament
Die beiden Fälle mögen zwar verschieden sein, doch die Gründe dahinter sind oft dieselben. Laut Avenir Suisse stehen sie für einen generellen Trend hin zu mehr Individualismus in einer Zeit zunehmender Komplexität öffentlicher Ämter wie Gemeinderat, Einsitz in Schul- oder Baukommissionen wie auch Sozialarbeit als Teil der Kirchenpflege. Leute, die solche Aufgaben übernehmen, müssen diese auch mit Verpflichtungen in Job und Familie unter einen Hut bringen.
Gleichzeitig herrscht unbestreitbar ein Trend in Richtung grösserer Professionalisierung der Arbeit der Abgeordneten im Schweizer Parlament, wie die Forschung der Politologin Sarah Bütikofer zeigt.
Eine Million Stunden
Es wird geschätzt, dass bis zu 150’000 Personen in der Schweiz auf nationaler, kantonaler oder Gemeindeebene ein Amt ausüben, sei es in der Exekutive, der Legislative oder der Judikative. Allein in den Gemeinden arbeiten rund 14’000 Gemeinderätinnen und Gemeinderäte jedes Jahr etwa eine Million Stunden, um ihre Gemeinde am Laufen zu halten. Zu einem Grossteil handelt es sich dabei um Freiwilligenarbeit zu einem eher symbolischen Lohn von etwa 25 Franken pro Stunde.
Gerhard Schwarz, Direktor von Avenir Suisse und früherer Leiter der renommierten Wirtschafts-Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung, singt ein Loblied auf das Milizsystem der Schweiz.
«Es ist ein Teil der DNA der Schweiz, doch im Gegensatz zur Neutralität und der direkten Demokratie steht es viel weniger im medialen Scheinwerferlicht.» Die empirischen Daten seien alarmierend, sagt er, sei es doch zentral für das politische Milizsystem, dass dieses durch im Alltag verankterte Nichtberufspolitiker geführt werde.
Würde man sich auf eine steigende Zahl von Berufspolitikern stützen, könnte eine elitäre Gruppe entstehen, und der Staat könnte teurer werden, was die Steuerlast von Personen und Unternehmen erhöhen könnte.
«Das Milizsystem ist wie ein Trainingsfeld für direkte Demokratie», sagt Andreas Müller, der das Buch von Avenir Suisse herausgab, bei dem auch namhafte Persönlichkeiten wie die Politologen Sarah Bütikofer und Andreas Ladner, die Soziologen Hanna Ketterer und Hans Geser wie auch Ausstellungsmacher Martin Heller und Philosoph Georg Kohler mitschrieben. «Das System kann helfen, eine Entfremdung der Wutbürger von ihrer Regierung zu vermeiden», so Müller.
Republikanische Ideale
Während über die Forschungsergebnisse weitgehende Einigkeit herrscht, könnten die Meinungen über mögliche Lösungen des scheinbar unaufhaltsamen Niedergangs des republikanischen Ideals – Bürgerinnen und Bürger, die gewillt und bereit sind, dem Staat über das Entrichten von Steuern und die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen hinaus zu dienen – nicht unterschiedlicher ausfallen.
Kann eine teilweise Reform die Therapie sein, oder braucht es eine grundlegende Erneuerung des Systems des modernen Schweizer Staats, der seit 1848 existiert? Soll die Entlöhnung überprüft oder müssen die Aufgaben neu ausgearbeitet werden?
Die liberale Denkfabrik bietet eine provokative Lösung, indem sie eine bereits etwas angegraute Idee für eine Reform des Milizsystems der Armee aufwärmt: Um eine öffentliche Debatte anzustossen, schlägt Avenir Suisse die Einführung einer Bürgerpflicht von etwa 200 Tagen für jede Bürgerin und jeden Bürger zwischen 20 und 70 Jahren vor, darunter auch Einwanderer mit Niederlassungsbewilligung.
Der Entwurf zeichnet eine breite Palette von Optionen, darunter auch die Möglichkeit, in einem Gemeinderat oder einer regionalen Verwaltung tätig zu sein, sowie die Einführung finanzieller Anreize.
Die Denkfabrik betont dabei, dass sie das Milizsystem der Armee für das Allgemeinwohl ergänzen und nicht etwa untergraben wolle. Sie hofft, damit die Beziehungen zwischen den Bürgern und ihrem Staat zu verbessern.
Unterschiedliche Reaktionen
Der Vorschlag allerdings scheint wenig Unterstützung zu erhalten. Bisher hat sich keine der grossen Parteien für einen solchen Bürgerdienst ausgesprochen, weder aus dem politisch rechten, noch dem linken Lager oder der Mitte. Rundherum wird die Idee als unpraktisch, als Widerspruch in sich selber oder als Angriff auf die Milizarmee abgelehnt.
Trotzdem zeigt sich Müller ob der öffentlichen Reaktion erfreut: «Wir haben es geschafft, den Fokus auf das echte Problem zu lenken und unsere Botschaft zu platzieren», sagt er. «Die Medien haben umfassend und neutral über unsere Studie berichtet, Politologen diskutieren das Thema in ihren Blogs.»
Der offensichtliche Unwillen der Parteien aber, in eine umfassende Diskussion zu treten, enttäuscht ihn. «Einige Politiker könnten in einer Zwickmühle stecken, besonders angesichts der Eidgenössischen Wahlen im Oktober. Sie können nicht offen ein professionelleres Parlament unterstützen oder den langfristigen Trend verneinen.»
Dieser Artikel erschien auf «swissinfo.ch» am 27. Februar 2015 Mit freundlicher Genehmigung von «swissinfo.ch».