Um die Klimaerwärmung (gegenüber vorindustrieller Zeit) auf 1,5°C zu begrenzen, ist es nötig, die Treibhausgasemissionen weltweit spätestens bis 2050 auf «netto-null» zu reduzieren. Immer mehr Länder, darunter auch die Schweiz und die EU, haben sich diesem Ziel verschrieben.
Doch was bedeutet «netto-null» überhaupt?
An sich liegt es auf der Hand, und doch scheint das Konzept zuweilen zu Missverständnissen zu führen. Netto-null bedeutet kurz gesagt Klimaneutralität. Diese ist erreicht, wenn die Menschheit im untersuchten Zeitraum durch technische Massnahmen oder Landnutzungsmassnahmen der Atmosphäre die gleiche Menge an Treibhausgasen (THG) entzieht, wie sie durch ihre sonstigen Aktivitäten in die Atmosphäre emittiert.
Der Kohlenstoffkreislauf
Die Erde hat einen Kohlenstoffkreislauf. Dieser beschreibt die Umwandlung kohlenstoffhaltiger Verbindungen in den Systemen Lithosphäre (Erdkruste), Hydrosphäre (Ozeane, Seen, Flüsse, Eis), Atmosphäre und Biosphäre (Atmung der Tiere, Photosynthese der Pflanzen, Verwesung). Menschliche Einflussnahme in diesen Kreislauf kann dazu führen, dass sich der Anteil des Kohlenstoffs – als CO2 oder andere THG gebunden – in der Atmosphäre erhöht. Der offensichtlichste Weg zur atmosphärischen CO2-Anreicherung ist, wenn man den Kohlenstoff (C) aus der Erdkruste, wo er seit Jahrmillionen eingelagert war, an die Oberfläche holt und ihn verbrennt (Reaktion mit O2). Genau das ist das Prinzip aller fossilen Brennstoffe. Ein paar Beispiele sollen verdeutlichen, was als anthropogener THG-Ausstoss gilt – also: was in die Netto-null-Rechnung einfliesst – und was nicht.
- Heute leben 7,8 Mrd. Menschen auf dieser Erde. Sie alle atmen permanent CO2 aus, und zwar täglich im Schnitt etwa 1 Kilo (Withers 2021). Das ergibt gesamthaft 2850 Mio. Tonnen CO2 pro Jahr – oder etwa 7,5% der Emissionen durch anthropogene Tätigkeiten. Diese Grösse ist durchaus nicht vernachlässigbar. Trotzdem hat sie keinerlei Einfluss auf den Klimawandel, denn der Mensch kann durch seine blosse physische Existenz die Atmosphäre nicht mit zusätzlichem CO2 anreichern. Er ist Teil des globalen Kohlenstoffkreislaufs: Das CO2, das er ausatmet, haben die Pflanzen, die er gegessen hat, vorher für ihre Photosynthese der Atmosphäre entzogen, und an ihrer Stelle wachsen wieder neue Pflanzen, die CO2 «konsumieren».
- Wie konnte dann aber die Kuh an ihr zweifelhaftes Image als Klimaschädigerin kommen? Ist sie nicht auch Teil des Kohlenstoffkreislaufs? – Jein. Würde die Kuh vorwiegend CO2 emittieren, wäre das korrekt. Sie wandelt aber in ihren Mägen Kohlenstoff zu enormen Mengen des deutlich klimareagibleren Methans um und erhöht damit die Treibhauswirksamkeit des Kohlenstoffs beträchtlich. Da nur aufgrund menschlicher Aktivität hunderte Millionen Kühe ein (jeweils meist ziemlich kurzes) Dasein fristen, zählen deren Gase zum anthropogenen THG-Ausstoss.
- Waldrodungen ohne gleichwertigen Ersatz führen zu anthropogenem THG-Ausstoss, weil der in der Biomasse gespeicherte Kohlenstoff damit früher oder später in der Atmosphäre landet.
- Im Umkehrschluss ändern Waldrodungen mit gleichwertigem Ersatz nichts an der anthropogenen CO2-Bilanz. Sie sind also CO2-neutral, sogar wenn das gerodete Holz verbrannt wird.
- Der Mensch an sich ist übrigens eigentlich eine kleine Kohlenstoffsenke: Er atmet Zeit seines Lebens nämlich nicht ganz so viel CO2 aus, wie seine Nahrung aus der Atmosphäre entnommen hat – die Differenz schlägt sich im Körpergewicht nieder. Etwa 24% davon sind Kohlenstoff (C). Bei einem Durchschnittsgewicht von 55 kg (inkl. Kinder) ergibt das 13 kg pro Person. Das derzeitige jährliche Bevölkerungswachstum von 73 Mio. Menschen entzieht der Atmosphäre daher sozusagen 1 Mio. Tonnen CO2 pro Jahr. Das klingt nach viel, ist aber im Vergleich zu den Gesamtemissionen von 38 Mrd. Tonnen verschwindend wenig.
Komponenten des CO2-Ausstosses auf dem Weg zu netto-null
Quelle: https://www.ipcc.ch/sr15/, S. 113
Der Weg zu netto-null
Um netto-null zu erreichen, müsste also der gesamte menschliche THG-Ausstoss durch Gegenmassnahmen kompensiert werden. Die Abbildung zeigt beispielhaft, wie der Weg dorthin aussehen könnte, wie sich also die Netto-THG-Emissionen auf diesem Weg in etwa zusammensetzen müssten:
Die ganze Elektrizitätsgewinnung (weisse Fläche) müsste innerhalb der nächsten Jahrzehnte rasch CO2-neutral werden.
Der THG-Ausstoss zur Energieerzeugung in den Bereichen Gebäude, Transport und Industrie (türkise Flächen) müsste ebenfalls stark sinken und dürfte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts höchstens noch 20% des heutigen Werts betragen. Einen wesentlichen Anteil zu dieser Reduktion müssten CO2-Abscheidungs-und-Speicherungs-Technologien, auf Englisch «Carbon Capture and Storage, CCS» beitragen. Damit sind direkt an den Kraftwerken stattfindende Verfahren zur technischen Abscheidung von CO2-Emissionen und ihrer dauerhaften Einlagerung in unterirdische «Endlager» gemeint (orange Fläche). Sie verhindern also, das CO2 überhaupt in die Atmosphäre gelangt.
Um netto-null zu erreichen (bzw. um in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts sogar in den Bereich negativer Nettoemissionen zu kommen), sind aber neben der weitgehenden Vermeidung künftiger THG-Emissionen auch Massnahmen zum Entzug von THG aus der Atmosphäre nötig.
Die Low-Tech-Variante dafür ist das Anpflanzen neuer Wälder. Diese lagern im Verlauf ihres Wachstums Kohlenstoff aus der Atmosphäre als Biomasse ein. An Ort und Stelle – und zwar nur an einer, die davor waldlos war – kann diese Senkung allerdings nur einmal erzielt werden – und sie ist nur dann nachhaltig, wenn nicht eine nachfolgende Generation das Waldstück wieder rodet. Der derzeit noch positive Netto-THG-Ausstoss aus der Landwirtschaft und Landnutzungsveränderungen (Agriculture, Forestry and Land Use, Afolu) müsste in den nächsten Jahrzehnten also allem voran mithilfe umfassender Wiederaufforstungsprogramme in den negativen Bereich gedrückt werden.
Die High-Tech-Variante dafür sind Technologien zur Rückholung von CO2 aus der Atmosphäre (Technological Carbon Dioxide Removal, CDR) mit anschliessend permanenter Einlagerung des Kohlenstoffs in der Erdkruste. Die Forschung dazu ist in vollem Gange. Einige Verfahren existieren sogar schon, sind aber bisher noch zu teuer und zu wenig skalierbar. Mittelfristig könnten sich aber einige Ansätze als erfolgsversprechend erweisen. Die Chancen stehen also gar nicht so schlecht, dass bald Methoden zur Marktreife gelangen, die es erlauben, den Film über den Prozess der Förderung und Verbrennung fossiler Energieträger, der nun schon eine beeindruckende Länge von 150 Jahren aufweist, rückwärts abzuspielen.
Dieser Beitrag stammt aus der Avenir-Suisse-Studie «Wirkungsvolle Klimapolitik», die am 20. Mai 2021 publiziert wird.