«Konservativ», «sozialistisch», «kommunistisch», «libertär» oder «(neo-)liberal» – politische Vorschläge werden oft mit ideologischen Etiketten versehen. Nicht selten werden die Begriffe dabei abwertend gebraucht, um eine Idee von vornherein zu diskreditieren. Insbesondere «neoliberal» wird oftmals im politischen Diskurs verwendet, um zu suggerieren, dass es nur darum gehe, den Reichtum der Reichen zu vergrössern, die Unternehmen noch mehr zu ermächtigen und die Armen sich selbst zu überlassen. Doch was bedeutet «neoliberal» und wie kam es dazu, dass es heutzutage beinahe zu einem Schimpfwort verkommen ist?
Geburtsort: Paris, 1938
«Neoliberalismus» setzt sich aus dem griechischen Wort «neos» (dt.: neu) und dem lateinischen «liberalis» (dt.: die Freiheit betreffend) zusammen. Geprägt wurde der Begriff anlässlich des Colloque Walter Lippmann, dem berühmten Treffen von Intellektuellen im Paris des Jahres 1938. Angesichts des Aufstieges von Ideologien wie Faschismus, Sozialismus oder Nationalsozialismus diskutierten die Teilnehmer des Kolloquiums über den Niedergang des Liberalismus, der das Individuum hervorhebt, aber auch über die Chancen einer revidierten liberalen Ordnung. Man sah in der bis dahin gekannten Form des Liberalismus, dem «Manchester-» bzw. «Laissez-faire-Liberalismus» des 19. Jahrhunderts wichtige Ursachen für den Erfolg der neuen, kollektivistischen Ideologien.
Ein Liberalismus im neuen Gewand musste her: einer, der das Privateigentum, Markt und Wettbewerb als Grundpfeiler für Wohlstand und Freiheit sieht, gleichzeitig aber die Notwendigkeit von Regeln eines starken, ordnenden Staates anerkennt. Am Colloque Lippmann setzte sich die Begriffsschöpfung «Neoliberalismus» des Soziologen und Wirtschaftswissenschafters Alexander Rüstows gegen Alternativen wie «Neo-Kapitalismus», «sozialer Liberalismus» oder «libéralisme de gauche» durch. Allerdings waren nicht alle Teilnehmer mit dem neuen Begriff einverstanden: Einige lehnten ihn grundsätzlich ab oder bezeichneten ihn als «das am wenigsten glückliche Ergebnis der Konferenz».
Fundament des Deutschen Wirtschaftswunders
Schlussendlich war das Konzept des Neoliberalismus die geistige Grundlage für den Wiederaufbau der marktwirtschaftlichen Ordnung in Nachkriegsdeutschland. Mit dem Erfolg des Deutschen Wirtschaftswunders (1948-1973) gewannen aber Begriffe wie «Soziale Marktwirtschaft» oder «Ordoliberalismus» die Oberhand, die linguistisch mehr Sicherheit versprachen. Das führte dazu, dass Ende der 1960er Jahre der Begriff «Neoliberalismus» zunehmend aus dem Diskurs verschwand.
Neuinterpretation ab den 1970ern
Der definitive Bedeutungsumschwung in Bezug auf den Begriff «Neoliberalismus» setzte in den 1970er Jahren ein. Dabei gibt es nicht genau ein Ereignis, das den Wandel erklären würde und es wäre vermessen, auch nur eines davon mit absoluter Sicherheit als Ursache bestimmen zu wollen. Dennoch lohnt es sich, eine mögliche Ursache für den Begriffswandel genauer zu beleuchten. Doch dazu müssen wir einen kurzen Blick in die Vergangenheit Chiles werfen.
1955 lancierte die Universität Chicago ein Programm, welches chilenischen Studenten erlaubte in Chicago Ökonomie zu studieren. Dort hatten sie unter anderem die Möglichkeit, mit den Ökonomen Milton Friedman und Friedrich August von Hayek zusammenzuarbeiten, zwei Ökonomen, welche dem Staat eher skeptisch gegenüberstanden und ihm keine aktive Rolle im Markt einräumten. Friedman vertrat die Ansicht, dass ein regulierender Staat nur eine ungehemmte Machtakkumulation der Bürokratie zur Folge hat und damit nicht nur die wirtschaftlichen Freiheiten, sondern auch die politischen Freiheiten beschränkt.
Zurück in Chile begannen die «Chicago Boys» in den 1960er Jahren ihre Einsichten durch Publikationen und Stiftungen in der chilenischen Gesellschaft zu verbreiten, so dass zur Zeit von Augusto Pinochets Militärputsch im Jahr 1973 die wirtschaftspolitische Ausrichtung unter Pinochets Anhängern stark von der Lehre Friedmans und Hayeks geprägt war. Nach Ende des Staatsstreichs begann man bald mit der Umsetzung wirtschaftsliberaler Reformen, indem sie innert weniger Jahre die Sozialausgaben senkten, Unternehmen privatisierten, Zolltarife senkten und deregulierten. Die schnelle und umfassende Marktliberalisierung in Chile, welche jedoch keine politischen Freiheiten beinhaltete, wurde von den Gegnern Pinochets kritisiert und dessen Reformen als «neoliberal» bezeichnet. Der in Chile umgesetzte «Marktfundamentalismus» unterschied sich auch deutlich von Hayeks und Friedmans Liberalismus, da er nicht mit politischer Freiheit verbunden war.
Negative Konnotation
Zunehmend wurde in den Folgejahren «neoliberal» auch im akademischen Kontext mit einem «Marktfundamentalismus» gleichgesetzt, der die soziale Sicherheit oder politische Freiheiten vernachlässigt und ausschliesslich auf ökonomische Optimierung achtet. In den 1980ern wurde der Begriff häufig auch für die Beschreibung der Wirtschaftspolitik Margaret Thatchers und Ronald Reagans verwendet.
Generell ist zu beobachten, dass insbesondere die Kritiker einer freiheitlich-marktwirtschaftlichen Ordnung rasch zum Etikett «neoliberal» greifen, der Begriff aber von Befürwortern praktisch nie benutzt wird. Diese negative Konnotation zieht sich bis in die Gegenwart fort und ist Kern der Botschaft, wenn beispielsweise das WEF in Davos als «neoliberal» kritisiert wird. Ironischerweise war es genau diese Kritik, die die ersten Neoliberalen Ende der 1930er gegen den «alten» Liberalismus anführten und mit welcher sie sich von einem Laissez-faire Liberalismus oder einem allfälligen Marktfundamentalismus distanzieren wollten.
Dieser kurze Streifzug durch die Geschichte zeigt, dass das Schicksal der neoliberalen Idee einen bösen Streich gespielt hat: Da versuchten die Ökonomen einen Begriff für eine revidierte liberale Ordnung zu finden, die eine verengte, rein ökonomische Sichtweise überwinden sollte, und dann wurde diese in nur 60 Jahren ins komplette Gegenteil umgedeutet. Doch nichts ist verloren, denn – das hat unser Exkurs gezeigt – die Begriffe können sich wandeln. Die Frage ist, wie es nun wohl weitergeht.
Dieser Beitrag ist Teil der Blogserie «Liberalismus konkret», in welcher wir uns mit den Errungenschaften liberalen Denkens und Handelns befassen.