Liberales Denken erfasst den Menschen als Individuum, als Träger von Rechten, Pflichten und Verantwortung. Der im griechischen Denken der Antike bereits angelegte Individualismus, entfaltete in Europa seit der Renaissance – von humanistischen, aufklärerischen Bewegungen getragen – seine Kraft und prägte das Denken europäischer Philosophen. Diese entwickelten die geistigen Fundamente, auf welche die liberalen europäischen Gesellschaften und Staatswesen der Gegenwart bauen.
Hinter dem Individualismus steckt die Überzeugung der Selbstzweckhaftigkeit bzw. unveräusserlichen Würde des Menschen. Diese Würde wird von Theologen und Philosophen unterschiedlich begründet: Immanuel Kant stützte die Begründung der Menschenwürde etwa auf die Eigenschaft des Menschen als vernunftbegabtes Wesen und universalisierte sie dadurch. Diese Begründung ist von grosser Bedeutung, weil damit weder Rasse, Religion noch ethnische Zugehörigkeit für das Vorhandensein menschlicher Würde entscheidend sein können.
Die Menschenwürde verbietet es, dass Menschen zum Spielball staatlicher und gesellschaftlicher Mächte gemacht werden. Daraus erwächst Staaten die Pflicht, die Menschenwürde sowohl zu achten als auch zu schützen (vgl. Art. 7 Bundesverfassung). Der Schutzauftrag macht deutlich, dass es sich bei den Grundrechten – die sich aus der Menschenwürde ergeben – nicht nur um Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat handelt, sondern das der Staat selbst Massnahmen zum Schutz der Menschenwürde zu ergreifen hat. Dazu gehören etwa ein funktionierendes Polizei- und Gesundheitswesen. Auch hat der Gesetzgeber den Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Grundrechte in der gesamten Rechtsordnung – auch unter Privaten – zur Geltung kommen (siehe Art. 35 Bundesverfassung). Ausfluss davon ist beispielsweise das Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts im Arbeitsrecht. Solange nur Handlungen untersagt werden, für die jegliche sachliche Begründung fehlt, stellt dies keine ungehörige Einschränkung der Privatautonomie dar, sondern ist notwendige Voraussetzung für eine gerechte Gesellschaft. Letztendlich ist die Achtung der Menschenwürde im nichtstaatlichen Umfeld Ausdruck des liberalen Menschenbildes eines verantwortungsvollen Individuums, das zur Freiheit anderer Menschen beiträgt.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Überzeugung gebildet, dass sich aus der Menschenwürde neben den Schutz- auch Leistungspflichten des Staates ergeben. Dazu gehören etwa der grundrechtliche Anspruch auf Nutzung des öffentlichen Grundes für Demonstrationen oder der Anspruch eines Häftlings auf Beizug eines Vertrauensarztes.
Kollektivistische Ideologien wie der Nationalsozialismus oder Kommunismus forderten die liberal-demokratischen Rechtsstaaten in den vergangenen 200 Jahren heraus, indem sie den Vorrang eines Volkes oder einer Klasse vor dem Individuum predigten: «Gemeinnutz vor Eigennutz» – lautete eine bekannte Formel. Der NS-Reichsrechtsführer Hans Frank hat zum Beispiel geschrieben: «Die Einzelpersönlichkeit kann vom Recht nur noch unter dem Gesichtspunkt seines Wertes für die völkische Gemeinschaft gewertet werden.»
Internationale Menschenrechte und nationales Recht
Dass sich in den vergangenen sechzig Jahren auch ein internationaler Menschenrechtsschutz entwickelt hat, ist zu begrüssen. Gegenteilige Meinungen, – wie sie in Bezug auf die Selbstbestimmungsinitiative geäussert wurden –, die davon ausgehen, dass ein nationaler Grundrechtsschutz ausreicht, sind aufgrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht haltbar.
Oft werden Demokratie und Rechtsstaat gegeneinander ausgespielt. In der Schweiz kommt dies in der Ablehnung der Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesgesetze, in der Rede von fremden oder elitären Richtern; der pauschalen Kritik an der dynamischen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie der pauschalen Kritik an der Nichtanwendung von Bundesgesetzen durch das Bundesgericht wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zum Ausdruck. Natürlich ist umgekehrt auch eine Sakralisierung der Rechtsprechung des EGMR zu beobachten.
Beides ist falsch: Menschenrechte und deren konkreter Inhalt fallen nicht vom Himmel, sondern sind das Ergebnis eines demokratisch geführten, nie abgeschlossenen Diskurses über Freiheit und Glück des Menschen in Staat und Gesellschaft. Diesem Diskurs dürfen sich weder Bürger noch Richter entziehen, noch davon ausgeschlossen werden. Dieser «Prozess der Menschenrechtsfindung» setzt Rechtsstaatlichkeit voraus, denn nur dann existieren die Grundlagen für einen offenen Diskurs.
Dieser Beitrag ist Teil der Blogserie «Liberalismus konkret», in welcher wir uns mit den Errungenschaften liberalen Denkens und Handelns befassen.
Titelbild: Fotolia