Privatsphäre ist auch im digitalen Raum kein Privileg, sondern Grundrecht und Grundlage einer selbstbestimmten Gesellschaft. Sie gehört von der Politik garantiert, von der Wirtschaft gepflegt, aber auch im Rahmen der persönlichen Eigenverantwortung vom Individuum gelebt und eingefordert.
Ich geb’s zu – ich bin heute bei Rot über die Ampel gerannt, schliesslich war weit und breit kein Auto in Sicht und ich musste das Tram erwischen. Abgesehen davon, dass ich ein paar kritische Blicke von Passanten erntete, musste ich keine Konsequenzen tragen. Im schlimmsten Fall hätte ich eine Busse bezahlen müssen.
In totalitären Ländern würde meine Übertretung schwerwiegendere Folgen nach sich ziehen. In China müsste ich mehr Steuern zahlen, mein Zugang zum öffentlichen Verkehr könnte eingeschränkt oder mir mein Traumjob bzw. -wohnung verwehrt werden. Diese Disziplinierungsmassnahmen sind Teil des sogenannten Sozialkredit-Systems, welches die von der chinesischen Regierung festgelegte «Tugendhaftigkeit» eines jeden Bürgers bewertet. Es veranschaulicht den Extremfall von Datentotalitarismus in einer gläsernen, nicht-freiheitlichen Gesellschaft und erinnert an den Wert der Privatsphäre.
Daten zwischen Wirtschaftsmotor und Missbrauchspotenzial
Ein hiesiges (hypothetisches) Szenario zum Vergleich: Mit jedem Einkauf in der Migros sammelst du die Cumulus-Punkte unabhängig von deiner Produktauswahl. Stelle dir nun vor, der Staat würde bestimmen, welche Produkte dich als guten, verantwortungsbewussten Menschen ausweisen. Entsprechend könnte dein täglicher Energydrink dazu führen, dass dir Cumulus-Punkte abgezogen würden, vielleicht stiege sogar bald deine Versicherungsprämie. Spätestens jetzt solltest du dich überwacht und fremdbestimmt, ja auch bevormundet fühlen. Selbstverständlich handelt es sich bei diesem Beispiel um eine Fiktion. Trotzdem sollten wir uns angesichts der zunehmenden Digitalisierung vermehrt um das hohe Gut der Privatsphäre bemühen und ein stärkeres Bekenntnis zu dessen Schutz leisten.
Doch über die Privatsphäre in Zeiten von Facebook, Instagram, Google und Co. nachzudenken, bedeutet, sich auch mit (inneren) Widersprüchen auseinanderzusetzen: Einerseits wollen wir von den neuen technischen Möglichkeiten nach Lust und Notwendigkeit Gebrauch machen. Die technologischen Anwendungen ermöglichen es uns, im Handumdrehen mehr über die Welt zu erfahren. Andererseits verraten sie der Welt auch viel über uns: So füttern wir mit jedem Tippen der Tastatur ein Datenmeer mit privaten sowie sensiblen Daten und machen uns beobachtbar. Dieses Spannungsfeld ist nicht aus der Welt zu reden.
«Aber ich habe ja nichts zu verbergen»
Schnell weicht man dann dem Dilemma mit der Standardausrede aus, man habe ja sowieso nichts zu verbergen. Dieser einfache Trugschluss ist jedoch gefährlich und verfehlt. So wird dadurch verkannt, dass die Privatsphäre nichts Kriminelles, sondern Sphäre alltäglicher Handlungen ist. Privatsphäre ermöglicht das fundamentale Recht, seine Persönlichkeit frei von äusseren Einflüssen entfalten zu können. Sie benötigt als Fundament der individuellen Freiheit keine Rechtfertigung.
Jeder von uns besitzt das Bedürfnis nach Privatsphäre. Schliesslich laufen wir nicht nackt herum, schliessen die Türe beim Toilettenbesuch, plappern nicht unkontrolliert unsere Gedanken heraus. Kurzum: Wir wollen selbst bestimmen, was wir von uns selbst der Öffentlichkeit preisgeben, für welche Aussagen wir verantwortlich gemacht werden können und wer welche persönlichen Daten zu welchem Zweck verwenden kann. Diese sogenannte «informationelle Selbstbestimmung» ist Grundbedürfnis mündiger Bürger in einer freien Gesellschaft. Das sollte jedem bewusst sein. Weil aber die Datenflüsse bei der Nutzung von Smartphones und Internet weitgehend intransparent und unübersichtlich sind, wissen wir sehr wenig darüber, was mit unseren Daten in den Tiefen des Datenmeers passiert. Was ist zu tun? Das Szenario China ist jedenfalls Negativbeispiel für jene, denen die Freiheit und Selbstbestimmung jedes einzelnen am Herzen liegen.
Gefragt ist die Politik, deren oberstes Ziel es sein sollte, die individuelle Privatsphäre zu schützen. Gefragt ist auch die Wirtschaft, die ihren Kunden höchste Transparenz und Sicherheit im Umgang mit ihren Daten garantieren, gewisse Standards definieren und damit eine Vertrauensbasis schaffen sollte. Doch es liegt auch, besonders in einem liberalen Verständnis, in der Eigenverantwortung jedes Einzelnen, vorsichtig und überlegt mit der eigenen Privatsphäre und jener der anderen umzugehen. Freiheit ist nicht selbstverständlich und kein Zufallsprodukt, weder im analogen noch digitalen Raum. Sie lebt vom Freiheitssinn und seiner praktischen Anwendung.
Dieser Beitrag ist Teil der Blogserie «Liberalismus konkret», in welcher wir uns mit den Errungenschaften liberalen Denkens und Handelns befassen.
Titelbild: Photo by Maxwell Ridgeway on Unsplash