Die OECD hat das Steuersystem der Schweiz überprüft. Dabei hat sie ausgerechnet eine seiner Stärken bemängelt: den vergleichsweise geringen Anteil der Mehrwertsteuer.
Alle zwei Jahre stellt sich die Schweiz einem wirtschaftspolitischen Check-up durch die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Schwerpunkt der diesjährigen Prüfung war das Steuersystem, denn sogar bei einem der Klassenbesten gibt es manches zu bemängeln.
Die Hauptkritik: Das schweizerische Steuersystem weicht zu stark von der Norm ab. Die Mehrwertsteuer macht hierzulande bloss 12,8% (2009) der Steuereinnahmen aus, statt 19,5% im OECD-Länderdurchschnitt. Entsprechend höher ist das relative Gewicht der Einkommenssteuer (31,5% statt 26,1% im Jahr 2009).
Gesamtbelastung steigt
Das sei schlecht für die Effizienz, urteilt die OECD. Die progressive Einkommenssteuer wirke sich negativ auf die Arbeitsleistung aus, weniger so die Mehrwertsteuer. Der Anteil der Einkommenssteuer an allen Steuereinnahmen sei zugunsten der Mehrwertsteuer zu reduzieren. Damit verlangt die OECD von der Schweiz ein Kunststück, das kaum ein Land je geschafft hat. Denn der Vormarsch der Mehrwertsteuer in Europa ging in aller Regel nicht mit einer Abnahme der Einkommenssteuer einher, sondern mit einer allgemeinen Zunahme der Steuerbelastung.
Was bis Mitte der Sechzigerjahre bloss als französische Spezialität bekannt war, ist heute eine der wichtigsten Einnahmequellen der EU-Staaten – dennoch sind Einkommenssteuern und Sozialversicherungsbeiträge seitdem stark gestiegen.
In einem vor einigen Jahren veröffentlichten internationalen Vergleich kamen die Finanzwissenschaftler Michael Keen und Ben Lockwood zum Schluss, dass eine Zunahme des Anteils der Mehrwertsteuer am Bruttoinlandprodukt (BIP) um 1% langfristig von einer Erhöhung der Fiskalquote (Verhältnis Steuereinnahmen zum BIP) um 0,8% begleitet wird.
Es stimmt zwar, dass die Mehrwertsteuer teilweise die ineffizienten Umsatzsteuern, Zollabgaben und die Unternehmensgewinnsteuer entweder reduziert oder ersetzt hat. Gerade wegen ihrer Effizienz bot die Mehrwertsteuer dem Staat jedoch die Möglichkeit, sich auszuweiten. Indirekt war somit die effizientere Besteuerung für die Ineffizienzen mitverantwortlich, die typischerweise mit aufgeblähten Staatsausgaben und Service public in Erscheinung treten.
Steuerwettbewerb in Gefahr
Aus dieser Sicht ist die Tatsache, dass das Schweizer Steuersystem weniger auf die Mehrwertsteuer, dafür mehr auf die «ineffiziente» Einkommenssteuer setzt, positiv zu werten. In der Schweiz existiert die Einkommenssteuer in zahlreichenVarianten, so vielen, wie es kantonale und kommunale Steuersätze gibt.
Die zentralisierte Mehrwertsteuer schaltet hingegen den Steuerföderalismus und seinen Motor, den Steuerwettbewerb, aus. Ein einzigartiger Standortfaktor der Schweiz droht damit geschwächt zu werden.
Es gibt weitere Vorteile der direkten Besteuerung. Für die Bürger ist die Einkommenssteuer spürbarer als die Mehrwertsteuer: Jeder Steuerpflichtige nimmt sie beim Ausfüllen der Steuererklärung bewusst wahr. Im Gegensatz zu Gütersteuern, die gestückelt bei Hunderten von Transaktionen in homöopathischen Dosen entrichtet werden, wird die Einkommenssteuer in wenigen Raten beglichen.
Die OECD-Länderberichte überzeugten immer wieder durch ihre analytische Qualität, auch wenn ihre wirtschaftspolitische Relevanz abgenommen hat. Immerhin lieferten sie wertvolle Hinweise darauf, wie die grössten Quellen der Ineffizienz unserer Volkswirtschaft die überregulierten Gütermärkte zu reformieren sind. Dieses Mal erweisen die Pariser Ökonomen den eigenen Absichten einen Bärendienst.
Dieser Artikel erschien am 11.Februar 2012 in «Finanz und Wirtschaft».