In der Diskussion um die freie Schulwahl steht häufig nicht die Qualität und die Effizienz des Bildungsangebots im Vordergrund, sondern die Sorge um die soziale Durchmischung und um die Chancengerechtigkeit. Letztendlich geht es um den gesellschaftlichen Kitt in einem mehrsprachigen und vielgestaltigen Land.
An diesem Punkt neigt die Debatte zur Romantisierung. Die alte Dorfschule auf dem gleichnamigen Gemälde von Albert Anker (1896) scheint sich derart ins kollektive Gedächtnis eingebrannt zu haben, dass man die heutigen Realitäten nur mit getrübter Linse wahrnehmen will. Sicher gibt es sie noch, die Dorfschule als Ort des Zusammengehörigkeit, wo Arm und Reich, Alteingesessene und Zugezogene, Begabte und Unbegabte gemeinsam die Schulbank drücken.
Heute bestimmt das Einkommen, wer Wahlfreiheit hat
Der Lebensalltag der meisten Schweizerinnen und Schweizer sieht aber ganz anders aus. Vier Fünftel von ihnen leben nicht mehr im ländlichen Idyll, sondern in Städten und ausufernden Agglomerationen. In der urbanen und suburbanen Siedlung ist die räumliche Segregation und damit die soziale Entmischung längst Realität geworden. Der Mechanismus dazu ist der Bodenmarkt, der Standortunterschiede in den Mieten und Hauspreisen einpreist.
Für den Umzug an eine bevorzugte Lage muss darum ein Eintrittspreis bezahlt werden, so auch für gute öffentliche Schulen in begüterten Gemeinden. Mehr noch: in den Preisunterschieden der Gemeinden drückt sich nicht primär deren Schulqualität aus, sondern die (progressive) Einkommenssteuer. Ein hohes Einkommensniveau der Einwohner einer Gemeinde schlägt sich deshalb überproportional stark in teuren Mieten nieder. Das Eintrittsticket per Zuzug ist darum für Normalverdiener häufig unerschwinglich. Das Einkommen bestimmt, wer heute über faktische Wahlfreiheit verfügt und wer nicht. Irritierend ist, dass gerade jene Kreise, die an vorderster Front gegen die Entmischung kämpfen, der freien Schulwahl nichts Positives abgewinnen können.
Haushalte mit kleinem Budget wären die Profiteure der Reform
Aber ist die Schulqualität in den wohlhabenden Gemeinden tatsächlich höher? Dazu genügt ein Blick auf die Maturitätsquoten im Kanton Zürich. Während in einigen Gegenden am Zürichsee fast die Hälfte der Schüler eine Mittelschule besucht, liegt die Quote im ländlichen Zürcher Weinland teilweise unter 10%. Vermutlich neigen die Weinländer mehr als die Seeanstösser zu praktischen Bildungsgängen wie einer Berufslehre. Trotzdem fällt es schwer, die ganze Differenz allein mit den vorhandenen Unterschieden in den Bildungsvorlieben zu erklären.
Verschiedene Untersuchungen für die Schweiz (Wolter 2011, Merzyn und Ursprung 2005) zeigen denn auch, dass die Zustimmung zur freien Schulwahl mit steigenden Einkommen abnimmt. Anders gesagt: Die Profiteure der Reform sind die Haushalte mit kleinem Budget. Schwer verständlich ist daher, dass der aufgeklärte Teil der Sozialdemokratie mehr Wettbewerb zwischen den Volksschulen nicht zu seinem ureigenen Anliegen macht. Da mag deren angeborener Hang zum Paternalismus mitspielen, der es Eltern nicht zutraut, den grösseren Handlungsspielraum zu ihrem Vorteil zu nutzen. Ein wichtiger Faktor ist aber auch die Lehrerschaft, deren politische Heimat vorwiegend links liegt und die die starre Zuweisung vehement verteidigt.
Das Prestige des Lehrerberufs ist – trotz Tertiarisierung der Ausbildung – in den letzten Jahrzehnten relativ zu anderen Berufen gesunken. Gleichzeitig fühlen sich die Lehrpersonen vermehrt unter Druck gesetzt. Eingezwängt zwischen ständigen Reformen, Integrationsfragen, disziplinarischen Problemen, Genderanliegen, aufmüpfigen Eltern und über Hand nehmender Bürokratie sehen sie ihre Felle endgültig davon schwimmen, sollten sie nun auch noch dem rauen Wind des Wettbewerbs ausgesetzt werden.
Diese Wahrnehmung des Wettbewerbs ist sehr einseitig. Jeder Veränderungsprozess birgt neue Perspektiven und Chancen. Gerade der Entdeckungscharakter des Wettbewerbs würde den Pädagogen mehr individuelle Handlungs- und Gestaltungsspielräume eröffnen, ganz abgesehen davon, dass sie zwischen Arbeitgebern wählen könnten, die differenzierter wären als heute.
Lesen Sie demnächst, welche Rolle dem Staat in einem System der freien Schulwahl zukommt.
Dieser Text beruht auf einem Beitrag, der im Kaleidos-Jahresbericht 2011 publiziert wurde.