Die Schweiz erlebt derzeit eine bizarre Debatte. Man diskutiert nicht über die Zukunft, sondern streitet um ein Geschichtsbild, in dessen Zentrum eine in alle Richtungen die Abgrenzung suchende Schweiz stehen soll. Es scheint, dass schlicht eine Vorstellung einer Schweiz im vernetzten globalen Dorf fehlt.
Für eine glaubwürdige Erzählung würde aber dazugehören, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Einklang gebracht werden. Klar ist: Wer kein Zukunftsbild vor Augen hat, hat Mühe, seine Herkunft zu deuten. Wenn wir uns unsere Vergangenheit vergegenwärtigen, sprechen wir auch über die Zukunft. Der nur auf Abgrenzung oder Abschottung beruhenden Vergangenheitsbeschreibung fehlt ein konkurrierendes Angebot. Der selektiven Vergangenheitsbeschreibung im Rückspiegel steht ein Schweigen zur Zukunft und zur Vergangenheit gegenüber. Eine gedankliche Leere.
Geschichte beschreibt Wandel
Bildung, Ausbildung und Weiterbildung sind heute eine zentrale Forderung an das Individuum. «Lebenslanges Lernen» ist das Leitmotto, um in einer beschleunigten Welt zurechtzukommen. Wer erfolgreich überleben will, könnte man zuspitzen, muss lernen. Auch ist es kein Zufall, dass ganze Bücherwände mit Wälzern zum «Organisations-Lernen» gefüllt werden können – Gleiches gilt, wenn von «learning cities» oder «lernenden Regionen» die Rede ist. Seltsam ist aber, dass dies nicht der Fall ist, wenn von der Schweiz als Nation gesprochen wird. Doch auch hier gilt: Die Schweiz wird erfolgreich sein, wenn sie lernfähig bleibt und bereit ist, aus ihren Fehlern zu lernen. Oder zugespitzter formuliert: Die Eidgenossenschaft ist (und war) erfolgreich, weil sie schon immer eine lernende Nation war.
Nun wird die Geschichte der Schweiz oft vollkommen anders erzählt. Ein immerwährendes Wesen der Schweiz wird herbeigedeutet und zelebriert. Wer diesem Erzählstrang, diesem Narrativ folgt, glaubt dementsprechend, dass die Schweiz auch in Zukunft genau gleich beschaffen sein muss – und auch so beschaffen sein wird. Es wird unterschlagen, dass Geschichte immer Wandel beschreibt. Und was aus liberaler Sicht fehlt, ist eine systematische, zusammenhängende Geschichte der Schweiz als lernende und nur deshalb erfolgreiche Nation.
Die Schweiz ist mit ihren direktdemokratischen Institutionen geradezu geschaffen für das kollektive Lernen. Das Volk darf und kann sich immer wieder neu erfinden, zum Akteur des Wandels werden. Was hat die Schweiz von den anderen Ländern, vom Ausland, von den Ausländern im Innern gelernt? Wann lernt die Regierung, wann das Parlament, wann das Volk? Wann lernt das gesamte politische System? Die Schweiz kennt ein ausgeprägtes «Regierungslernen», denn über Volksabstimmungen erhält diese rasche Feedbacks, die sie berücksichtigen muss. Ebenso aber kennen wir das «Volkslernen» über kurze Zeit: So wurde die Sommerzeit anfänglich abgelehnt, ein Jahr darauf aber akzeptiert.
Vom Lernen leben
Auch das Lernen über längere Zeit kennen und wissen wir zu schätzen, etwa was das Frauenstimmrecht oder die UNO angeht. Die Schweiz lernte im Inneren vom ausgeprägten Föderalismus, also von den Erfahrungen einzelner Kantone, aber auch von anderen Staaten: Das Zweikammersystem wurde 1848 von den Vereinigten Staaten kopiert.
Kurzum: Gerade die Schweiz lebt in besonderem Masse vom Lernen. Wir sind eine eigentliche «Lerngemeinschaft». Was uns fehlt und was tatsächlich Einfluss auf die Zukunft hätte, ist die Erzählung der Herkunft und der Entwicklung der «Lernnation» Schweiz. Dieser Geschichtsschreibung könnte sodann die Zukunftsvision einer lernenden Schweiz im Wandel entspringen. Das wäre ein Geschichtsbild, das die Menschen aktiviert: Wer lernfähig und -willig ist, hat keine Angst vor der Zukunft. Er verkrampft sich nicht in Geschichtsbildern, er hat keine Angst vor der Unvorhersehbarkeit unserer Zeit, denn er weiss: Wer, wenn nicht wir, hat die Fähigkeit dazu, die Zukunft zu meistern?
Dieser Beitrag erschient im Tages-Anzeiger vom 6. Juli 2015.