Die staatlich orchestrierte Credit-Suisse-Übernahme durch die UBS ist ein Akt der nationalen und internationalen Realpolitik. Als solche darf das Resultat keineswegs mit einer liberalen Marktwirtschaft gleichgesetzt werden – im Gegenteil: Die (potenzielle) Sozialisierung von Verlusten, während gleichzeitig die Gewinne privatisiert sind (wenn auch im Fall der CS über die vergangenen zehn Jahre kumuliert nicht einmal Reingewinne erzielt, aber eben Boni und hohe Löhne ausbezahlt wurden), bedeutet eine Verletzung des Verantwortungsprinzips. Das ist im Kern illiberal.
Dessen ungeachtet ist zu erwarten, dass die Ereignisse der letzten Tage nun als Versagen des Liberalismus gedeutet werden. Auch wenn das offensichtlich nicht stimmt, dürfte dieses Narrativ verfangen. Und es könnte über die kommenden Monate sogar noch an Fahrt aufnehmen. Denn viele der nun möglichen Szenarien werden neue Nahrung dafür liefern: Sollte die CS-Übernahme nicht erfolgreich über die Bühne gehen und die UBS unverhofft mit grossen Verbindlichkeiten konfrontiert sein, wird die Allgemeinheit aufgrund der gewährten Garantien dafür aufkommen müssen. Sollten sich die CS-Strukturen hingegen als robuster erweisen und die UBS Teile der ehemaligen Grossbank (wie etwa die Schweiz-Einheit) zu einem Vielfachen des Übernahmepreises veräussern, wird der Aufschrei ebenfalls gross sein – ungeachtet dessen, dass die UBS vielleicht Verluste von anderen Teilen absorbieren und Restrukturierungskosten schultern muss.
Markt und Unternehmen – zwei verschiedene Konzepte
Solche Vorgänge ziehen Kapitalismuskritiker dann als Beweis dafür heran, dass wir in Zeiten eines ungezügelten «Neoliberalismus» leben. So nachvollziehbar der Ärger angesichts des jahrelangen Missmanagements der Credit Suisse ist, so sehr ist diese Sichtweise geprägt von Missverständnissen. Eines davon: Liberale seien die Vertreter der (Partikular-) Interessen von Unternehmen. Das stimmt so – zumindest in dieser Reinform – nicht. Zwar mag eine Interessenkongruenz in vielen Aspekten vorliegen, doch die Liberalen interessieren sich vor allem insofern für die Wirtschaft, als sich diese aus uns allen zusammensetzt, also aus Käufern, Verkäuferinnen, Konsumentinnen, Angestellten, Arbeitgeberinnen, oder etwas abstrakter: aus der Summe von Individuen, die miteinander Verträge abschliessen. Allgemein formuliert haben Liberale grosses Vertrauen in die vorteilhaften Auswirkungen von Wettbewerb in freien Märkten. Sie sind also «pro market», nicht «pro business».
Natürlich haben viele Wirtschaftsakteure wiederum ein grundsätzliches Interesse an freiheitlichen Rahmenbedingungen im liberalen Sinne. Doch die unternehmerischen Ziele sind nicht immer kongruent mit liberalen Idealen. Es gibt auch Akteure aus der Wirtschaft – die zuweilen der liberalen Hemisphäre zugeschrieben werden –, die beispielsweise nach Regulierung rufen, sobald es ihren eigenen Interessen dient. Beispiele findet man in der Energiebranche, die derzeit um Staatshilfen buhlt, beim Thema Parallelimporte, die von Schweizer Produzenten bekämpft werden, oder auch bei Startups, die sich für staatlich subventionierte Innovationsfonds einsetzen. Das untergräbt die Glaubwürdigkeit liberaler Forderungen.
Dem Verantwortungsprinzip Rechnung tragen
Gerade das Phänomen «Privatisierung von Gewinnen, Sozialisierung von Verlusten» sorgt berechtigterweise für Empörung. Unternehmen erzielen mit riskanten Strategien in guten Zeiten Milliardengewinne und zahlen ihren Managern Gehälter und Boni sowie ihren Aktionären Dividenden in Millionenhöhe aus. In schlechten Zeiten wird dann aber nach dem Staat gerufen, und die Unternehmen sollen mit Geldern der Steuerzahler gerettet werden.
Man kann es nicht deutlich genug ausdrücken: Dieser Mechanismus ist nicht nur für Kapitalismuskritiker ein Ärgernis, sondern ebenso für Liberale. Der Unterschied zwischen beiden: Während viele Kapitalismuskritiker am liebsten gleich auch die Gewinne sozialisiert hätten, um Symmetrie zu schaffen, beharren Liberale auf einer Privatisierung der Verluste. Das mag kurzfristig – auch für die Gesellschaft – schmerzhaft sein, es führt aber langfristig zu einer resilienteren und faireren Wirtschaft. Damit wird effektiv das Phänomen des «Charity Hazard» unterbunden: Wissen nämlich Unternehmen – sei es ein multinational tätiges Grossunternehmen oder die Dorfbäckerei –, dass Ihnen im Zweifel der Staat unter die Arme greift, werden sie weniger Vorsorge für Krisensituationen treffen, und damit weniger mit privaten Mitteln untermauerte Resilienz aufbauen.
Die Bereitschaft zur Krise und gegen eine möglichst umfassende staatliche Absicherung braucht Mut. Der Industrielle (und ehemalige Stiftungsratspräsident von Avenir Suisse) Rolf Soiron richtete in diesem Zusammenhang schon vor Jahren Kritik an die eigenen Reihen: «Es war auch das liberale Lager selber, dass einen Teil der Munition für immer neue Regulierungsforderungen produzierte: (…) Das Versagen von Vorzeigeunternehmen wie Swissair, UBS, Deutsche Bank etc. schuf ein Gefühl der Dysfunktionalität von Systemen, des Ungenügens der Führungsgruppen und der Notwendigkeit ‹einzugreifen›, bei einem gleichzeitig völligen Mangel an Erfahrung, dass Regulierung nur ein Kaschieren von Dysfunktionalitäten ist – in kleinen Beamtenstrukturen und in Regeln, die dann wiederum systematisch missbraucht werden.»
Der Vetternwirtschaft mittels Marktwirtschaft den Nährboden entziehen
Es gibt weitere Phänomene, die Kapitalismuskritiker zu Recht monieren, aber zu Unrecht als Resultat einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung interpretieren. Interessant ist dabei, dass dem (Neo-) Liberalismus immer gerne dort die Schuld zugeschoben wird, wo sich menschliche Abgründe auftun: Geiz, Habgier, Vetternwirtschaft. Nur: Geiz und Habgier gehören – leider – seit jeher zum Spektrum menschlicher Eigenschaften. Eine liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist hier keineswegs die Ursache der Probleme. Noch grösser der Irrtum bei der Vetternwirtschaft: Diese ist viel eher Gegenspieler der Marktwirtschaft als ihr Sekundant.
Liberalismus basiert auf Individualismus und Meritokratie, und weicht damit genau vom evolutionären Normalzustand ab, gemäss dem wir nur innerhalb von kleinen Gruppen kooperieren, also: Vetternwirtschaft betreiben. So weisen Gesellschaften mit weit entwickelten marktwirtschaftlichen Strukturen die stärksten Normen für Fairness und Solidarität auf, sowie eine grössere Bereitschaft zur Sanktionierung jener, die diese Normen nicht einhalten. Das erst hat eine ausgeprägte Arbeitsteilung und damit den heutigen Wohlstand ermöglicht. Korruption, Gier und Geiz haben hingegen in Systemen, in denen der Staat grosse Macht besitzt, einen fruchtbareren Nährboden: Wo Macht und Geld in erster Linie institutionell verteilt werden, sind die Verteilkämpfe intensiver und intransparenter, meist weniger fair und zudem viel ineffizienter als dort, wo sie durch Leistung erzielt werden.
Die Fehldeutung des CS-Deals als Scheitern marktwirtschaftlicher Prinzipien ist daher gefährlich, denn daraus leiten sich direkt Forderungen nach einer noch stärkeren staatlichen Kontrolle und Regelung wirtschaftlichen Geschehens ab. Dabei ist es im Gegenteil die freie Marktwirtschaft, die die Grundlagen für eine meritokratische Gesellschaft und damit so etwas wie Chancengleichheit schafft.
Dieser Text ist aus gegebenem Anlass ein Vorab-Auszug aus der Avenir-Suisse-Publikation «Vermessenes Staatswachstums», die am 26. April erscheint und hier publiziert wird.