Das Thema Inflation ist in aller Munde. Während Finanzanalysten, Zentralbanker und Konsumentenschützer noch abwägen, ob und wann der Peak der Teuerung erreicht wird, verfallen Politikerinnen und Politiker schon in Hyperaktivismus. Keine ökonomische Gewissheit, sondern viel mehr der Schattenwurf der anstehenden Wahlen auf Bundesebene 2023 leitet ihren Ehrgeiz. Von links bis rechts überbieten sich die Parteien mit Forderungen, um ihre Wählerschaft im Namen der Inflationsbekämpfung mit Wahlgeschenken zu beglücken. Die Gewerkschaften möchten den im Gesetz verankerten AHV-Rentenanpassungsmechanismus ausser Kraft setzten und die Renten mindestens im Umfang der Inflation erhöhen. Die SP- und Mitte-Parteien rufen nach einer ausserordentlichen Session rund um die Teuerungsthematik. Und zuletzt fordert die SVP, die Steuern für Rentner zu senken.
Seit zwanzig Jahren hatten wir das Glück, mit wenig bis gar keiner Teuerung mehr zu leben. Ende 2021 waren die Preise in der Schweiz noch gleich hoch wie Ende 2008. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass die Inflation von 3,4% Ende Juni 2022 die Bürgerinnen und Bürger beschäftigt. Diese Sorge sollte man ernst nehmen. Auch wenn nächstes Jahr Bundeswahlen stattfinden, oder gerade deshalb, ist es jedoch wichtig, kühlen Kopf zu bewahren und nicht bewährte Grundprinzipien über Bord zu werfen.
Bewährte Prinzipien einhalten
Erstens sind erhöhte Preise ein wichtiges Signal für knapp gewordene Güter, wie dies für Öl, Gas und manche Getreide seit Ausbruch der Ukraine-Krise gilt. Die hohe Inflationsrate ist zu einem wesentlichen Teil auf die erhöhten Energie- und Nahrungsmittelkosten zurückzuführen. Die Kerninflation, also ohne Energie und Nahrungsmittel, betrug Ende Juni 2022 «lediglich» 1,9%. Dieses Signal darf man nicht überhören. Es ergibt keinen Sinn, wenn der Bundesrat mit grosser medialer Aufmerksamkeit Private aufruft, die Wohnung weniger zu heizen, und Betriebe sich auf eine Mangelsituation vorbereiten sollen, wenn die Politik gleichzeitig alles unternimmt, die Wähler von den Preiserhöhungen im Energiesektor zu entlasten. Es ergibt auch keinen Sinn, Kostenwahrheit bei der Energieversorgung zu verlangen, um die Energiewende voranzutreiben, wenn die Teuerung von Heizöl und Erdgas durch politische Massnahmen zunichte gemacht wird.
Zweitens sollten feintarierte Systeme, wie der 1979 eingeführte Mischindex für die AHV-Rentenanpassung, nicht überstürzt ausgesetzt werden. Der Mischindex war ein Kompromiss, um die Rentner am allgemeinen Lohnwachstum der Aktiven teilhaben zu lassen und ihnen einen partiellen Schutz gegen Inflation zu geben. Man kann und sollte die Zweckmässigkeit dieser Regel nach vierzig Jahren durchaus in Frage stellen. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass die Altersvorsorge in der AHV nicht wie ein «Sparschwein» funktioniert, sondern vielmehr einem Durchlauferhitzer entspricht. Die laufenden Renten werden vor allem durch die Lohnbeiträge im entsprechenden Jahr gedeckt. Jede Rentenerhöhung verlangt zusätzliche Abgaben der Aktiven. Es kann deshalb nicht sein, dass die Renten nur dann angepasst werden, wenn es den Rentnern nützt. In den letzten Jahren hatten wir oft keine, sogar negative Inflation in der Schweiz. Kein Politiker hat damals eine Anpassung an die negative Teuerung zur Entlastung der Aktiven verlangt.
Drittens sollte bei Steuerthemen der Grundsatz der fiskalischen Gleichbehandlung eingehalten werden. Bei gleichem steuerbarem Einkommen sollen gleichviel Steuern eingezogen werden. Eine positive Diskriminierung zu Gunsten der Senioren, wie es die SVP verlangt, lässt sich nicht begründen, auch wenn Rentner eine wichtige Wählergruppe darstellen. Wer 25’000 Franken im Jahr verdient, hat es in der Schweiz oft schwer und darf eine gezielte Unterstützung vom Staat erwarten, zum Beispiel bei den Krankenkassenprämien. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum beim gleichen Einkommen eine pensionierte Person mit 70 Jahren vom Steueramt bessergestellt sein sollte als die alleinerziehende 40-jährige Mutter, die täglich mit dem Auto zur Arbeit und zur Kita fährt und damit den erhöhten Benzinpreis voll zu spüren bekommt.
Zwei Fliegen auf einen Streich
Kühlen Kopf in einer Krise bewahren heisst allerdings nicht hilf- und tatenlos zuzuwarten. Längst fällige Reformen müssen vorangetrieben werden. Die Abschaffung der Verrechnungsteuer, worüber wir am nächsten 25. September abstimmen, würde die neuen Emissionen von Obligationen in der Schweiz für Unternehmen, parastaatliche Organisationen wie Spitäler, Energie- und Bahnunternehmen sowie für den Staat attraktiver machen. Damit könnte unser Finanzplatz wieder auf Geschäfte zählen, die inzwischen unter anderem nach Luxemburg abgewandert sind. Günstige Finanzierungsmöglichkeiten sind aber vor allem für unsere Volkswirtschaft dann wichtig, wenn die Inflation und damit die Zinsen steigen.
Auch die Einführung der Individualbesteuerung würde finanzielle Anreize setzen, damit sich ein zweites Familieneinkommen lohnt. Meistens ist es dasjenige der Frauen. Die Individualbesteuerung könnte bis 60’000 Personen in Vollzeitstellen in den Arbeitsmarkt zurückholen. Es würde nicht nur die überall spürbaren Engpässe in der Produktion und im Dienstleistungssektor entschärfen. Es würde auch der Lohndruck aufgrund des Fachkräftemangels reduzieren und damit einen Beitrag zur Brechung der Inflationsspirale leisten.
Diese Beispiele zeigen: die Politik muss in Zeiten der Inflation nicht untätig bleiben. Doch statt den Kuchen ein Jahr vor den Wahlen neu teilen zu wollen, sollte sie alles daransetzen, um ihn grösser zu machen. Sie soll der Versuchung neuer Umverteilung widerstehen und konsequenter denn je das umsetzen, was Wohlstand sichert und vermehrt.