Wenn man den hiesigen Medien Glauben schenkt, zählt Teilzeitarbeit zu den dringendsten Problemen in der Schweizer Wirtschaftspolitik. Kaum eine Woche vergeht ohne kritische Äusserungen bezüglich reduzierter Arbeitszeiten. Für einige ist Teilzeitarbeit zum Sinnbild eines «erodierenden Arbeitsethos» unter den Schweizerinnen und Schweizern geworden. Andere wiederum sind der Meinung, dass der Staat durch immer grosszügigere Subventionen – beispielsweise für Krankenversicherungen, Genossenschaftswohnungen oder Kindertagesstätten – den Trend zur Teilzeitarbeit fördert. Beide Entwicklungen werten sie als bedenklich ein.
Ohne Teilzeit Hunderttausende Erwerbstätige weniger
Dass die Teilzeitbeschäftigung auf dem Schweizer Arbeitsmarkt weit verbreitet ist, schleckt keine Geiss weg. Im Jahr 2022 waren 37% der Erwerbstätigen in Teilzeit tätig, Tendenz steigend. Doch die Häufigkeit von Teilzeitarbeit in der Schweiz spiegelt vor allem die zunehmende Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt wider. So sind gegenwärtig 62% der Frauen im Alter von 15 Jahren oder älter erwerbstätig, was im Vergleich zu vor 50 Jahren eine Steigerung um rund 20 Prozentpunkte bedeutet. Wenn die Erwerbsquote auf dem damaligen Niveau verharrt wäre, gäbe es heute etwa 780 000 Frauen weniger auf dem Schweizer Arbeitsmarkt. Dieser Anstieg war nur dank Teilzeitstellen möglich. Zur Erinnerung: 1970 arbeiteten noch 88% der Erwerbstätigen Vollzeit.
Aus dieser Sicht ist die Teilzeit als Erfolg unseres flexiblen, liberalen Arbeitsmarktes zu werten. Denn wo der Arbeitsmarkt stärker reguliert und die Teilzeitarbeit als «atypische Arbeitsform» verhindert wird, beispielsweise in den Ländern Südeuropas, ist die Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen deutlich seltener – insbesondere jene der Mütter.
Und die Subventionen?
Die (flexible) Regulierung des Arbeitsmarktes ist aber nicht der einzige Faktor, der für die Wahl der Arbeitszeiten massgeblich ist. Auch hier ist ein Blick in die Vergangenheit aufschlussreich. Obwohl Schweizer Männer in jüngster Zeit tatsächlich ihre Anstrengungen auf dem Arbeitsmarkt leicht reduziert haben mögen, war der Rückgang der Arbeitszeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viel ausgeprägter. So sank zwischen 1880 und 1930 die reguläre Arbeitswoche von 63 auf 45 Stunden. Steuern und Sozialabgaben zahlte man damals aber kaum; staatliche Subventionen wurden (vergleichsweise) selten gewährt.
Vielmehr waren es die gestiegenen Stundenlöhne in Folge der fortschreitenden Arbeitsproduktivität, die diesen massiven Rückgang auslösten. Zwar machen auf der einen Seite höhere Löhne jede zusätzliche Arbeitsstunde attraktiver für die Arbeitnehmenden – das ist der sogenannte Substitutionseffekt. Auf der anderen reduzieren sie den Bedarf nach zusätzlichem Verdienst (Einkommenseffekt). Lange hielten sich diese gegenläufigen Effekte in etwa die Waage: Zwischen 1930 und heute gingen die Normarbeitszeiten lediglich um 5 Stunden zurück. Nun aber neigt sich die Waage wieder etwas in Richtung des Einkommenseffektes.
Steueramt kann nicht in Köpfe schauen
Die starke Reduktion der Arbeitszeiten in der Vergangenheit zeigt auch, dass der Begriff «Vollzeit» letztlich willkürlich ist. Die Vollzeit von heute entspricht der Teilzeit von damals. Demnach sind bürokratische Massnahmen zur Bestimmung der «wahren» Leistungsfähigkeit von Teilzeitbeschäftigten – wie kürzlich von bürgerlichen Politikern verlangt – letztlich hinfällig. Die individuelle maximale Leistungsbereitschaft lässt sich nicht objektiv bestimmen. Weil die Steuerbehörden glücklicherweise nicht in unsere Köpfen schauen können, verfügen sie prinzipiell nicht über die notwendigen Informationen. Wer sich an den vielen staatlichen Subventionen stört, die in der Tat bis weit oben in den Mittelstand geleistet werden, soll sie besser direkt bekämpfen als über die Hintertür der Teilzeitarbeit.
Mehrarbeit soll sich lohnen
Wichtiger ist, das Steuersystem so auszurichten, dass sich Mehrarbeit weiterhin lohnt. Dies ist in der Schweiz glücklicherweise noch weitgehend der Fall – aber nicht immer. Die gemeinsame Veranlagung der Ehepaare führt beispielsweise dazu, dass das Einkommen erwerbstätiger Ehefrauen – in der Regel sind sie die Zweitverdienerinnen – im Durchschnitt einer um 50% höheren Steuerbelastung unterliegt als das Ersteinkommen. Die Individualbesteuerung würde diese Zweiteinkommensstrafe eliminieren – und die Vollzeitarbeit für die Frauen noch attraktiver machen.
Ohnehin steuert unsere Gesellschaft in Richtung eines Angleichs bezahlter und unbezahlter Arbeitszeit von Männern und Frauen. Warum sollten wir uns darum kümmern, wenn die Männer weniger arbeiten wollen? Letztlich ist dies Ausdruck des Wunsches nach einer egalitäreren Aufteilung der Familien- und Haushaltsarbeit. In einer liberalen Gesellschaft ist das kein Verbrechen.