Die Schweiz hat mit ihrer Schuldenbremse in der Finanzpolitik Pionierarbeit geleistet und wird um dieses Instrument beneidet – und noch mehr vermutlich um den relativ guten Zustand ihrer Staatsfinanzen. Seit dem Inkrafttreten im Jahre 2003 findet das Modell daher international viel Interesse und einige Nachahmer. Allerdings gilt auch hier: Nicht überall, wo Schuldenbremse draufsteht, ist auch Schuldenbremse drin. Einnahmenüberschüsse und Schuldenabbau scheinen jedenfalls selbst für Länder, die sich formell einer Schuldenbremse verschrieben haben, wie etwa Deutschland, noch auf lange Zeit hinaus Zukunftsmusik.
Übergewichtete Sozialpolitik
Doch so wichtig und überzeugend die Idee der Schuldenbremse war und ist, in der konkreten Umsetzung gibt es naturgemäss da und dort Tücken, um nicht zu sagen: Konstruktionsfehler. Auf den wohl gravierendsten weist die wirtschaftspolitische Grafik dieses Monats hin. Ein beachtlicher Teil der Bundesausgaben kann aufgrund sogenannter Ausgabenbindungen kurz- bis mittelfristig nicht beeinflusst werden. Solche Bindungen ergeben sich aus Zweckbindungen für Staatseinnahmen, aus fixen Beträgen oder Ausgabenquoten für einzelne Subventionen, aus vertraglichen (internationalen) Verpflichtungen und aus exogenen Faktoren, etwa der Zinsentwicklung. Gemäss einer Einschätzung der Eidgenössischen Finanzverwaltung sind heute rund 55% der Bundesausgaben oder 35 Mrd. Fr. stark gebunden – Tendenz steigend. 1990 war dieser Anteil erst bei 35% gelegen, vor zehn Jahren lag er dann gut zehn Prozentpunkte höher. Aufgrund einer einfachen Extrapolation ist anzunehmen, dass dieser Anteil bis 2020 weiter auf 60% steigen wird. Ein Grossteil der stark gebundenen Ausgaben (rund 90%) entfällt auf die beiden Bereiche «Soziale Wohlfahrt» sowie «Finanzen und Steuern».
Die Folgen dieser Entwicklung sind vielfältig. Erstens steht für finanzpolitische Akzentsetzungen ein immer kleinerer Anteil des Haushalts zur Verfügung, was auch demokratiepolitisch nicht unproblematisch ist. Zweitens muss, wenn aufgrund der Schuldenbremse Sparmassnahmen notwendig werden, in den schwach gebundenen Bereichen gespart werden. Dazu zählen neben Landesverteidigung und Landwirtschaft auch Bildung und Forschung oder Verkehr (inkl. Betrieb und Unterhalt der Nationalstrassen). Diese Posten sind schon vor Einführung der Schuldenbremse zum Teil massiv zurückgefahren worden, dürften aber in Zukunft weiter verlieren, wenn nicht Gegensteuer gegeben wird. Drittens erhält die Sozialpolitik ein enormes Gewicht, vermutlich ein klar grösseres, als es dem bewussten politischen Willen des Souveräns und des Parlaments entspricht. Im Bundeshaushalt 1990 entfielen fast 22% der Ausgaben auf «Soziale Wohlfahrt», 2020 werden es, bei einem nominal etwa zweieinhalbmal so grossen Gesamthaushalt gegen 38% sein.
Fallbeispiel AHV
Besonders eindrücklich zeigen sich die Probleme beim grössten Einzelkredit im Staatshaushalt des Bundes, dem Bundesbeitrag an die AHV von derzeit 7,4 Mrd. Fr. Dieser Beitrag ist gemäss heutiger Regelung an die Entwicklung der AHV-Ausgaben gebunden (19,55%). Sie werden gemäss allen Prognosen aufgrund der demografischen Alterung deutlich rascher wachsen als das Bruttoinlandprodukt. Daher wird sich der Bundesbeitrag 2030 gemäss dem mittleren Szenario des Bundesamtes für Sozialversicherung auf 11,7 Mrd. Fr. (zu Preisen von 2013) belaufen. Nähme der Bundesbeitrag im Einklang mit dem Wirtschaftswachstum zu, wie das die Einnahmen des Bundes erfahrungsgemäss tun, käme er auf lediglich 9,6 Mrd. Fr. pro Jahr zu stehen. Mit anderen Worten werden die Ausgaben des Bundes für die AHV zu einer zunehmenden Verdrängung anderer Aufgabengebiete des Bundes führen, und das in nicht unwesentlichem Ausmass. Die gut 2 Mrd. Fr. Differenz entsprechen ungefähr 30% der jährlichen Ausgaben des Bundes für Bildung und Forschung und gar mehr als 50% der jährlichen Landwirtschaftsausgaben.
Fiskalregeln für Sozialversicherungen
Der Ausweg liegt auf der Hand: Zum einen sollte man unbedingt im Bundeshaushalt versuchen, sich von solchen Bindungen zu befreien. Bei der Invalidenversicherung wird der Bundesbeitrag ab 2014 an die Entwicklung der Mehrwertsteuer geknüpft, was in diesem Fall aus besonderen Umständen zwar zu einer Mehrbelastung des Bundeshaushalts führt, aber im Prinzip richtig ist. Umso mehr sollte man diese Abkoppelung auch dann vornehmen, wenn sie zu einer Entlastung des Bundes führt, wie dies bei der AHV der Fall wäre. Neue Zweckbindungen in der Finanzierung (etwa im Verkehr) sollte man wie der Teufel das Weihwasser fürchten. Zum anderen sollte man aber auch die Ausgaben der staatlichen Sozialversicherungen einer Schuldenbremse bzw. einer Fiskalregel unterstellen, wie dies Avenir Suisse schon seit langem vorschlägt und es nach Ablehnung der 11. AHV-Revision bereits wieder in Form einer Motion im Nationalrat zur Debatte steht. Würden die Sozialausgaben dank einem solchen Mechanismus nämlich nicht ins Uferlose steigen, käme es im Bundeshaushalt nicht zu jenen letztlich ungewollten strukturellen Verschiebungen, die unsere Grafik zeigt.
Dieser Artikel erschien am 31. August 2013 in der «Neuen Zürcher Zeitung». Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung».