Andreas Minder: Sie haben in der Studie «Grenzenlos innovativ» dargelegt, wie gross der Beitrag von Ausländerinnen und Ausländern zur Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft ist. Trotzdem gibt es Skepsis gegenüber der Einwanderung. Eine Befürchtung ist, dass die Zugewanderten den Lohn drücken. Ist sie begründet?

Patrick Leisibach: Die Literatur konnte ziemlich gut widerlegen, dass es einen Lohndruck oder eine Verdrängung aus dem Arbeitsmarkt gibt. Es gibt Studien, die sogar positive Effekte finden: Etwa, dass Einheimische vermehrt Führungsfunktionen übernehmen, weil man dort auf Personen setzt, die mit den lokalen Gegebenheiten und Sprache bestens vertraut sind. Langfristig ist der Arbeitsmarkteffekt wohl noch positiver, weil Innovation und Produktivitätssteigerungen die Löhne erhöhen – und die Beschäftigungsmöglichkeiten. Google ist unter anderem deshalb in Zürich, weil sie wissen, dass hierzulande die nötige kritische Masse an hochqualifizierten Leuten vorhanden ist. Diese erreichen wir in gewissen Bereichen aber nur durch Zuwanderung.

Hat Migration aus Ihrer Sicht nur Vorteile?

Nein, sie hat natürlich nicht nur Sonnenseiten. Das Bevölkerungswachstum ist, gerade wenn man an die Infrastruktur denkt, eine grosse Herausforderung. Auch Sorgen hinsichtlich kultureller Aspekte muss man ernst nehmen. Bei den jetzigen Zuwanderungsraten ist es verständlich, dass die Leute ein mulmiges Gefühl haben. Das sind auch eine Art Kosten, auch wenn man sie nicht quantifizieren kann. Migration ist ein komplexes Thema mit vielen Wirkungen, einfache Lösungen gibt es keine.

Vier Forschende in einem Chemielabor

Personen aus Drittstaaten, die hier studieren, sollten durch ein vereinfachtes Verfahren bleiben können. (Adobe Stock)

Welche Massnahmen schlagen Sie vor?

Bei der aktuellen Rekordzuwanderung kann es sicher nicht darum gehen, die Grenzen auch noch global zu öffnen. Das wäre weder ökonomisch sinnvoll, noch würde es von der Bevölkerung akzeptiert. Stattdessen müssen wir die mit dem Bevölkerungswachstum verbundenen Herausforderungen adressieren. Die Schweiz wird aber auch künftig nicht darum herumkommen, viele Fachkräfte ins Land zu holen. Nur so können wir unseren Wohlstand erhalten. Angesichts der europäischen Demografie gehen wir davon aus, dass wir mittelfristig für Nicht-Europäerinnen und Nicht-Europäer selektiv offener werden müssen. Ein erster Schritt könnte sein, es Personen aus Drittstaaten, die hier studieren, einfacher zu machen, zu bleiben. Zumal auch viele Steuergelder in ihre Ausbildung geflossen sind.

Welche weiteren Möglichkeiten sehen Sie?

In vielen Ländern gibt es Start-up-Visa, die Drittstaatenangehörigen die Gründung und Entwicklung von Firmen erleichtern. Mit diesem Instrument könnte die Schweiz global signalisieren: Wer eine Idee hat und sie hier verwirklichen will, kann das tun. Sie könnte sich wieder stärker als Land des Unternehmertums positionieren. Das wären zwei Massnahmen, die selektiv Talente, aber nicht Tausende von Personen ins Land locken könnten.

Welche langfristigen Massnahmen schweben Ihnen vor?

Langfristig müssen wir bei den Drittstaaten eine andere Praxis finden. Wenn es immer schwieriger wird, die nötigen Fachkräfte in Europa zu finden, müssen wir die besten Leute auch ausserhalb Europas rekrutieren können. Die heutige Lösung mit den Kontingenten ist ein administratives Ärgernis. Viele kleine Firmen und Start-ups versuchen gar nicht erst, hochqualifizierte Personen aus Nicht-EU-Staaten einzustellen. Es braucht ein einfacheres System.

Wie könnte es aussehen?

Man könnte den Zugang zum Arbeitsmarkt an das Einkommen knüpfen: Wer ein Jobangebot hat, das eine bestimmte Lohnhöhe überschreitet, könnte frei in die Schweiz einreisen. Die Idee dahinter: Wir brauchen nicht noch mehr Zuwanderung, aber wir brauchen die besten Leute weltweit.

Von der Wirtschaft her scheint der Bedarf nach mehr Zuwanderung aber durchaus vorhanden zu sein.

Ganz klar, ja. In der Schweiz werden jährlich rund 50’000 zusätzliche Stellen geschaffen, zuletzt sogar noch mehr. Das ist ein Erfolgszeichen, aber auch eine enorm hohe Zahl. Ich bezweifle, dass das längerfristig nachhaltig ist. Es stellt sich die Frage, ob man nicht auch mit weniger Stellenwachstum und mehr Strukturwandel gleich viel Wohlstand generieren könnte.

Was denken Sie?

Das Problem ist: Wie liesse sich ein gewünschtes Wachstum bestimmen und erreichen? Und wer wäre dafür verantwortlich? So sehen wir bei den Drittstaaten, welche Probleme es macht, wenn Behörden darüber entscheiden, ob nun eine Firma wirklich eine kanadische Softwareentwicklerin benötigt oder nicht. Bei staatlicher Steuerung bin ich deshalb sehr skeptisch.

Wie wird es Ihrer Einschätzung nach weitergehen mit der Migration und der Migrationspolitik in der Schweiz?

Das Momentum verschiebt sich auf die migrationskritische Seite. Wenn wir uns nicht mal mehr darüber einig sind, dass eine französische Pharmaforscherin einen positiven Effekt in der Schweiz hinterlässt, sind wir auf dem falschen Weg. Dass wir über die Probleme reden müssen, die die Zuwanderung mit sich bringt, ist klar. Ob wir deshalb aber die Personenfreizügigkeit mit der EU in Frage stellen sollten, da wäre ich vorerst vorsichtig. Einfache Lösungen gibt es nicht. Man sieht das aktuell in Grossbritannien, das nach dem Brexit einen radikalen Systemwechsel vollzog. Die Zuwanderung ist dort auf Rekordniveau, gleichzeitig wollen aber kaum mehr Europäerinnen und Europäer auf die Insel. Damit geht Fachkräftepotenzial verloren. Es ist also auch wichtig, welche Signale man mit einer Migrationspolitik in die Welt sendet.

Dieser zweite Teil des zweiteiligen Interviews wurde von Andreas Minder geführt und ist als in der Beilage «Alpha – Der Kadermarkt der Schweiz» in den Tamedia-Zeitungen vom 11. Mai 2024 erschienen. Teil 1 finden Sie hier.