Zurzeit setzt sich das Fürstentum Liechtenstein mit der Frage auseinander, wie dem stetigen Abbau der Finanzreserven in der AHV begegnet werden soll. Vor zwei Jahren bereits wurde die betriebliche Personalvorsorge erfolgreich einer Reform unterzogen. Anlässlich des 30-jährigen Bestehens des Obligatoriums für eine betriebliche Personalvorsorge befragte das Bulletin der Finanzmarktaufsicht von Liechtenstein Jérôme Cosandey zur Zukunft der zweiten Säule.
Das Umfeld hat sich für die berufliche Vorsorge seit Beginn des 20. Jahrhunderts stark verändert. Die Alterung der Bevölkerung und die tieferen Renditen am Kapitalmarkt stellen die Sozialwerke vor wichtige Herausforderungen. Wo sehen Sie die berufliche Vorsorge in 20 Jahren?
Jérôme Cosandey: Tatsächlich sind die tiefen Nominalrenditen für die 2. Säule problematisch. Solange wir jedoch eine positive Realrendite verzeichnen, lohnt sich das Kapitaldeckungsverfahren für die Versicherten. Ganz wichtig ist zudem, dass die berufliche Vorsorge Teil des 3-Säulen-Systems ist, das unterschiedliche Finanzierungsströme aufweist. Dadurch erfolgt eine wichtige Risikodiversifikation für die Altersvorsorge. Die 1. Säule ist ein Transfersystem, in dem die Demografie und der Binnenmarkt erheblichen Einfluss haben. Die 2. und die 3. Säule sind demgegenüber dem Marktrisiko ausgesetzt, dafür können diese Säulen von der Entwicklung in ausländischen Märkten profitieren. Diese Diversifikation ist Garant für die Stabilität und Nachhaltigkeit der Altersvorsorge.
Wie gross ist der aktuelle Handlungsbedarf, damit die berufliche Vorsorge, wie wir sie heute kennen, bestehen bleiben kann?
Auf lange Sicht stellt sich die Frage, ob der Grundgedanke, dass ein Arbeitnehmer ein Leben lang beim selben Arbeitgeber mit einem Arbeitspensum von 100% tätig ist und anschliessend in Pension geht, noch richtig ist. Die Gesellschaft hat sich gewandelt, es bedarf einer erheblichen Flexibilisierung der Altersvorsorge. Die AHV stellt die Grundversicherung dar und sollte durchaus eine gewisse Starrheit aufweisen, dagegen sollten die Pensionskassen die Altersvorsorge viel flexibler gestalten können.
In Liechtenstein ist 2017 / 2018 das überarbeitete Gesetz zur betrieblichen Personalvorsorge in Kraft getreten. Unter anderem hat man den Freibetrag (in der Schweiz: Koordinationsabzug) gestrichen, die Altersgutschriften von 6 % auf 8 % erhöht, die Eintrittsschwelle von derzeit 20’880 Fr. auf 13’920 Fr. gesenkt und den Sparprozess mittels Senkung des Eintrittsalters verlängert. Wie beurteilen Sie als Experte die vorgenommenen Änderungen?
Damit ist Liechtenstein der Schweiz einen Schritt voraus. Der Gesetzgeber hat richtig gehandelt, die neuen Realitäten des Arbeitsmarkts berücksichtigt (mehr Teilzeitarrangements und neue Arbeitsformen in der Digitalwirtschaft) und die notwendigen langfristigen Massnahmen getroffen. Die vorgenommenen Anpassungen haben jedoch auch spürbare Auswirkungen auf einzelne Branchen gezeigt. In Branchen mit eher tiefen Löhnen oder mit vielen Teilzeitangestellten werden die Anpassung des Freibetrags zu einem überproportionalen Anstieg der Lohnnebenkosten geführt haben. Die Schweiz könnte diese Effekte dämpfen, indem solche Änderungen schrittweise eingeführt werden.
Wo liegen die dringendsten Probleme in der beruflichen Vorsorge, die es noch zu lösen gilt?
Liechtenstein hat das Glück, dass der Umwandlungssatz vom Stiftungsrat festgelegt wird und nicht wie in der Schweiz im Gesetz verankert ist. Obschon die flankierenden Massnahmen den Senkungsprozess des Umwandlungssatzes verlangsamen, ist die Problematik der systemwidrigen Umverteilung in Liechtenstein dadurch weniger brisant als in der Schweiz. Dennoch bleibt das Verständnis der technischen Parameter, wie des Umwandlungssatzes oder der Verzinsung der Sparkapitalien, eine grosse Herausforderung in beiden Ländern. Viele kennen den Unterschied zwischen Nominal- und Realrenditen, also die Rendite nach Abzug der Inflation, nicht. Im aktuellen Tiefzinsumfeld stellen deshalb manche die Frage, ob sich das System überhaupt noch lohne. Dabei geht vergessen, dass vor 20 Jahren zwar ein Zins von 4% ausgerichtet wurde, dabei jedoch eine Inflation von 5% herrschte, so dass sich im Endeffekt real weniger Rendite ergab als im heutigen Tiefzinsumfeld. Die Kommunikation dieser zwar unterschiedlichen Betrachtungsweise mit im Resultat aber fast gleichlautendem Ergebnis ist sehr schwierig. Das heutige Tiefzinsumfeld führt im Unterschied zu früher jedoch dazu, dass die Höhe der Verwaltungskosten deutlich sichtbarer geworden und deshalb stärker im Fokus ist.
Wie können Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu einer Stärkung der zweiten Säule beitragen? Müssen wir alle länger arbeiten?
Viele europäische Länder sind daran, das Rentenantrittsalter schrittweise anzuheben. Jedes Jahr wird ein bisschen länger gearbeitet, zum Beispiel einen Monat. In Ländern wie der Schweiz oder Liechtenstein, die einen starken Dienstleistungssektor haben, sollte deshalb eine Erhöhung des Rentenalters kein Tabu sein. Die Pensionskassen müssen aber nicht auf eine gesetzliche Anpassung warten. Sie haben es selbst in der Hand, in ihren Reglementen flexible Lösungen anzubieten, die eine Weiterversicherung oberhalb des Antrittsalters ermöglichen. Für die einen bietet sich eine frühere Pensionierung an, für andere erscheint es richtig, länger zu arbeiten. Die Wahl sollte zumindest in der zweiten Säule jedem selbst überlassen sein.
Ist eine Flexibilisierung der beruflichen Vorsorge wie etwa ein flexibles Pensionierungsalter, eine gleitende Pensionierung, flexible Renten etc. unumgänglich?
Je nach Branche sind die Bedürfnisse unterschiedlich. Der Gesetzgeber und die Pensionskassen mit den Arbeitgebern müssen den Arbeitnehmern die Möglichkeit bieten, das Pensionsalter frei wählen zu können. Die Auswirkungen eines längeren Erwerbslebens sind in der 2. Säule direkt spürbar. Länger arbeiten bedeutet mehr ansparen und damit eine höhere Rente. Auch gibt es verschiedene Möglichkeiten der Flexibilisierung durch Teilpensionierung, Senkung des Arbeitspensums etc. In der Schweiz ermöglicht zu Bespiel das Gesetz, ab einem gewissen Alter das Arbeitspensum eines Mitarbeiters zu reduzieren, den bisherigen Lohn jedoch noch voll zu versichern. Das kostet auf den ersten Blick mehr, aber dadurch bleibt der Fachwissen länger im Unternehmen erhalten, und diese Lösung ist damit oft günstiger als der abrupte Abgang eines Fachexperten ohne Nachfolgelösung.
Der Kapitalbezug lag in Liechtenstein 2017 bei rund 53%. Wie beurteilen Sie die steigende Tendenz, das Altersguthaben als einmalige Kapitalzahlung zu beziehen anstelle einer lebenslangen Rente? Und wo liegen allfällige Probleme und Risiken für die Vorsorgeeinrichtungen?
Die Kapitalbezugsquote liegt in Liechtenstein etwa gleich hoch wie in der Schweiz. Ich finde die Möglichkeit, Kapital zu beziehen, ein sehr wichtiges Instrument, um das Vertrauen der Arbeitnehmer in die 2. Säule zu erhalten und zu stärken. Dadurch wird es den Versicherten klar, dass ihnen das angesparte Geld gehört, und nicht der Pensionskasse, dem Arbeitgeber oder dem Staat. Dadurch werden Reformen, die die Nachhaltigkeit der zweiten Säule fördern, eher angepackt. Eine oft geäusserte Befürchtung ist, dass der Kapitalbezug zu steigenden Ausgaben der Ergänzungsleistungen führen könnte. In der Schweiz bestehen keine methodisch robusten Untersuchungen, die einen solchen Zusammenhang beweisen würden. Untersucht wurden zwar Rentner, die Ergänzungsleistungen beantragt haben. Vergessen wurden dabei aber alle Rentner, die zwar Kapital bezogen haben, jedoch nicht vom Staat abhängig wurden. Statt die Kapitaloption einzuschränken, scheint es mir deshalb zielführender, die Zugangsregeln zu Ergänzungsleistungen nachzujustieren, um Fehlanreize zu vermeiden. In der Schweiz wurden solche Regeln bei der letzten EL-Reform eingeführt.
Bleibt bei der ganzen Überarbeitung der beruflichen Vorsorge nicht die Solidarität auf der Strecke? Schliesslich ist auch in der zweiten Säule einer der wichtigsten Faktoren für deren Funktionieren die Solidarität zwischen den Versicherten.
Die Solidarität ist das tragende Element der 2. Säule – weniger lang Lebende unterstützen länger Lebende. Das ist das Grundprinzip der 2. Säule. Auch führt die Solidarität in der 2. Säule zu einer Glättung der Verzinsung in der Vermögensanlage und schützt vor Kurseinbrüchen kurz vor der Pensionierung. Doch durch den Reformstillstand um den Umwandlungssatz entstanden seit zwanzig Jahren neue, systemwidrige Transfers von Jung zu Alt, weil die Auszahlung der laufenden Rente eine niedrigere Verzinsung der Sparkapitalien der Aktiven bedingt. Diese «Solidarität» ist nicht im Sinne des Erfinders. Die laufenden Diskussionen in der Schweiz um den Zwang, ab einer gewissen Summe Kapital statt Rente zu beziehen (zum Beispiel rund um die 1e-Pläne), oder die Erhöhung des Rentenalters in den Pensionskassenreglementen usw., sind nicht Ausdruck einer sinkenden Solidarität, sondern die Antwort aus der Praxis auf die Untätigkeit der Politik. Mein Wunsch für die Erhaltung der Solidarität ist grundsätzlich, sowohl eine faire Finanzierung für Aktive als auch für Rentner zu erreichen. Dafür muss die Politik den richtigen Rahmen setzten und der Stiftungsrat verantwortlich und nah an den Versicherten handeln.
Dieses Interview ist in leicht veränderter Form erstmals im Bulletin der Finanzmarktaufsicht von Liechtenstein, Ausgabe 2019, erschienen.