Der 1. August bietet Gelegenheit, sich Gedanken darüber zu machen, was die Bürger miteinander verbindet und inwieweit das heutige Gesellschaftsmodell für die Zukunft taugt. Zum Beispiel das Milizsystem: Es war bis anhin Ausdruck des Schweizer Staatsverständnisses, dass jeder nach seinen Möglichkeiten einen Beitrag zum Gemeinwesen leistet. Dies erfordert ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein der Bürger und hat viel zum politischen Erfolg unseres Landes beigetragen. Die aktive Beteiligung der Bevölkerung an öffentlichen Angelegenheiten schafft eine starke Bindung zum Staat und stärkt die direkte Demokratie.
Doch unser Milizsystem steht unter Druck. Die individuellere Lebensgestaltung, höhere berufliche Anforderungen, das – durchaus gewollte – stärkere Engagement der Frauen im Beruf sowie die Lockerung traditioneller Bindungen führen dazu, dass die institutionalisierte Freiwilligenarbeit in der Schweiz seit Jahren abnimmt. Und auch wenn neue Formen der zivilgesellschaftlichen Partizipation auftauchen, verlieren klassische Miliztätigkeiten an Attraktivität: So engagieren sich immer weniger Menschen ehrenamtlich in Vereinen, sozialen oder caritativen Organisationen und in Interessenverbänden. National- und Ständerat wandeln sich zu Berufsparlamenten, und Gemeinden in allen Kantonen suchen händeringend nach Kandidaten für politische Ämter.
Auch die Armee ist betroffen. Trotz sukzessiver Senkung der Armeebestände wird es immer schwieriger, Kader zu rekrutieren und gut ausgebildete Soldaten längerfristig einzubinden, was der nationalen Sicherheit auf Dauer abträglich sein könnte. Oft wird implizit dem Zivildienst unlauterer Wettbewerb gegenüber der Armee vorgeworfen. Für die «nachhaltige Sicherung der Alimentierung der Armee» hat der Bundesrat im Juni eine Vernehmlassung zur Änderung des Zivildienstgesetzes eröffnet, damit weniger Junge zum Zivildienst zugelassen werden.
Zielführender wäre es, über eine grundlegende Reform der Wehrpflicht nachzudenken, statt das Problem allein bei der vermeintlich «überhöhten Attraktivität» des heutigen Zivildiensts zu suchen. Gefragt ist eine Reform, die sich stärker an den Bedürfnissen einer modernen Gesellschaft orientiert, das ehrenamtliche Engagement aufwertet und die Armeebestände langfristig zu sichern vermag.
Um die Milizkultur zu stärken, ist deshalb der Ersatz der heutigen Wehrpflicht durch einen allgemeinen Bürgerdienst zu prüfen. Er soll Schweizerinnen und Schweizer ebenso einbeziehen wie niedergelassene Ausländer und Ausländerinnen. Ein derartiger Bürgerdienst könnte wahlweise in der Armee, in einem Schutzdienst oder in einer zivilen Tätigkeit wie der Alterspflege, der Feuerwehr oder in einem politischen Amt absolviert werden. Denkbar wäre, die angepeilte Dienstzeit von 200 bis 260 Tagen zwischen dem 20. und dem 45.Altersjahr zu absolvieren – eventuell sogar bis zum 70.Altersjahr, um die Bürgeraufgaben zwischen den Generationen besser zu verteilen. Damit würde gleichzeitig die bisher wenig zielführende Abgrenzung zwischen sogenannten Zivilisten und Armeeangehörigen überflüssig. Es ginge nicht mehr darum, «die Armee attraktiver zu machen» oder den Zivildienst gegenüber der Armee abzuwerten, sondern um die Aufwertung verschiedenster Aufgaben im Dienste der Schweizer Allgemeinheit.
Heute sind junge Schweizer Männer bei der Absolvierung des Armee-, beziehungsweise des Zivildienstes im Vergleich zu Frauen und Ausländern benachteiligt. Die Umwandlung der Wehrpflicht zu einem allgemeinen Bürgerdienst schüfe gleich lange Spiesse für alle. Gleichzeitig würde die Ausweitung der Dienstpflicht auf Frauen ihr sowieso vorhandenes gesellschaftliches Engagement institutionalisieren und besser sichtbar machen. Denn noch immer erledigen die Frauen einen Grossteil der unbezahlten Arbeit wie Hilfeleistungen für Bekannte und Verwandte. 2016 waren es im Durchschnitt 30,1 Stunden pro Woche gegenüber 19,5 Stunden bei den Männern. Diese Art von Arbeit ist vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung besonders nutzbringend und wird nicht zuletzt deshalb unterschätzt, weil sie unentgeltlich erfolgt.
Letztlich würden auch Einrichtungen wie die Armee von komplementären Kompetenzen anderer Dienste profitieren. Bei einer Verdoppelung des Rekrutierungspools würden die spezifischen Qualifikationen des Personals wieder an Bedeutung gewinnen – unabhängig von Alter und Geschlecht. Ein Dienstmodell, das alle einbezieht sowie unterschiedliche Bürgerdienste der Armee gleichstellt, könnte den Geist eines Schweizer «Bürgerstaats» neu beleben. Es würde zu mehr Gerechtigkeit beitragen, politische Grabenkämpfe beenden und – nicht zuletzt – die Armeebestände längerfristig sichern.
Dieser Text ist als Gastbeitrag in der «NZZ am Sonntag» vom 29. 7. 2018 erschienen. Weiterführende Informationen zum Thema: Bürgerstaat und Staatsbürger: Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne