Die Standardbiografie, nach der ein Mitarbeiter von der Wiege bis zur Bahre, beziehungsweise von der Lehre bis zur Pensionierung beim gleichen Unternehmen bleibt, ist heute eher die Ausnahme als die Regel.
Auch die Vorstellung einer Ehe «bis dass der Tod euch scheidet» ist für jedes zweite Ehepaar längst passé. Viele arbeiten nicht mehr immer 100 Prozent bei einer Firma, sondern sind vielleicht bei mehreren Arbeitgebern gleichzeitig angestellt oder teilweise selbständig.
Dennoch bietet das Gesetz der beruflichen Vorsorge (BVG) den Versicherten wenig Möglichkeiten, ihre Altersvorsorge auf ihre Bedürfnisse und Lebensumstände auszurichten.
Ein paternalistischer Ansatz
Ist es in diesem Kontext immer noch zeitgemäss, die berufliche Vorsorge an den Arbeitgeber zu koppeln? Gewiss gibt es noch Patrons, die für ihre Mitarbeiter von der Anstellung bis zur Pensionierung vorsorgen. Aber ist dieser paternalistische Ansatz die richtige Antwort auf eine Arbeitswelt, die immer mehr von Startups und Platform-Wirtschaft geprägt wird? Der Gründer eines ETH-Spinoffs wird – selbst als pflichtbewusster Arbeitgeber – kaum an die Pensionierung der jungen Kollegen in 40 Jahren denken. Ebenso wenig wie die jungen Arbeitnehmer selber. Sollte in unserer modernen Gesellschaft mit immer mehr individualisierten Lebensläufen die Wahl der Pensionskasse nicht dem Mitarbeitenden überlassen werden?
Die Frage steht schon länger im Raum. Vor 15 Jahren, als die Arbeitswelt noch eine andere war, bestellte der Bundesrat zwei Expertenberichte, die zu diametral unterschiedlichen Empfehlungen kamen: Der erste favorisierte die freie Wahl der Pensionskasse, während der andere sie kategorisch ablehnte. Auf der Basis dieser sich widersprechenden Berichte entschied sich der Bundesrat 2005 gegen eine Liberalisierung des Pensionskassenmarktes.
Doch unsere Lebenswelt verändert sich, und die Idee findet unter der Bevölkerung immer mehr Akzeptanz. In einer repräsentativen Umfrage durch das Institut M.I.S-Trend im Auftrag der Groupe Mutuel haben diesen Sommer 74% der Befragten die freie Wahl der Pensionskasse durch die Versicherten unterstützt. Das Magazin Cash kam Ende 2017, nach der Ablehnung der Altersvorsorgereform 2020, auf eine ähnliche Zustimmungsrate (76%).
Vom B2B hin zu B2C-Modell
Wahlfreiheit klingt immer gut, was die hohe Akzeptanz dieser Idee bei Umfragen erklären kann. Doch was versteht man genau unter der freien Pensionskassenwahl? In unserem Verständnis beinhaltet sie drei Elemente:
- Die Sozialpartner definieren nach wie vor den Umfang der beruflichen Vorsorge: eine minimale Lösung nach BVG oder eine Lösung im Überobligatorium, sprich mit höheren Beiträgen, oder eine breitere Definition des versicherten Lohns (z.B. um Angestellte mit Teilzeitanstellung besser zu versichern).
- Der Mitarbeitende kann für die Verwaltung des von den Sozialpartnern definierten Sparkapitals eine Pensionskasse nach seinen (Anlage-)Präferenzen frei wählen. Bei der Anstellung muss er neu dem Arbeitgeber neben seinem Lohnkonto einfach sein Pensionskonto mitteilen.
- Die Risiken für Invalidität und Tod vor dem Rentenalter bleiben kollektiv beim Arbeitgeber versichert. Somit sind die Interessen des Arbeitgebers und -nehmers für Prävention – und somit für tiefere Prämien – gleichgerichtet.
Diese Gestaltung der beruflichen Vorsorge würde die Rolle der Sozialpartner wenig verändern, dafür die Branche umso stärker umkrempeln. Das heutige System ist ein Business-to-Business-Modell (B2B). Es ermöglicht sehr differenzierte und massgeschneiderte Lösungen für die Unternehmen. Diese fast endlosen Möglichkeiten bedeuten aber auch eine hohe Komplexität des Geschäfts, birgt die Gefahr von Intransparenz und schafft Bedarf für teure Beratungsleistungen. Mit der Wahlfreiheit der Pensionskasse durch die Versicherten würde man hingegen ein Business-to-Consumer-Modell (B2C) einführen.
Einsparungen und zusätzliche Kosten
Ein B2C-Modell müsste sich stärker an den Bedürfnissen der Endkonsumenten statt an denjenigen der Unternehmen ausrichten und dafür standardisiert und vereinfacht werden. Diese Komplexitätsreduktion ginge mit Kosteneinsparungen einher.
Zudem würde die verstärkte Konkurrenz unter den Kassen zu einer Konsolidierung der Branche führen. Heute haben wir in der Schweiz ca. 1560 Pensionskassen: Die 156 grössten (Top 10%) vereinen 81 Prozent des Vermögens (vgl. Abbildung). Umgekehrt verwalten 1400 Kassen nur 19 Prozent der Bilanzsumme.
Bei einer Konzentration der Branche auf ca. 300 Pensionskassen könnte man jährlich etwa 400 Millionen Franken an Vermögensverwaltungskosten sparen, weil die konsolidierten Kassen eine stärkere Verhandlungsmacht gegenüber Banken und Vermögensverwaltern hätten. Etwa 350 Millionen Franken würden nochmals an pauschalen Verwaltungskosten eingespart, weil viele Aufgaben nicht von der Anzahl Versicherten, sondern von der allgemeinen Führung einer Pensionskasse abhängen, zum Beispiel Jahresabschlussarbeiten, Kosten für Pensionskassenexperten und Revision oder der Kontakt zu Behörden und Stiftungsräten.
Auf der Ausgabenseite würde hingegen ein B2C-Modell mehr Marketingkosten verursachen, sei es für Werbung oder Entschädigungen der Versicherungsvermittler. Ist ein effizienter Wettbewerb sichergestellt, wird sich allerdings ein Gleichgewicht einstellen zwischen Einsparungen oder zusätzlichen Leistungen für die Kunden einerseits, und besseren Löhnen für die Mitarbeiter und Makler anderseits; denn Pensionskassen dürfen keine Gewinne machen.
Rückbesinnung auf die Kernaufgabe der Sozialpartner
Möglichkeiten, auf die Bedürfnisse der Versicherten einzugehen, werden manchmal als Bedrohung des Kollektivs und der Sozialpartnerschaft angeprangert. Das Gegenteil ist richtig: Heute verbringen die paritätisch besetzten Organe einer Pensionskasse (also gleich viele Arbeitnehmer- wie Arbeitgebervertreter) sehr viel Zeit mit technischen Fragen wie der Festlegung der Anlagestrategie, der nötigen Höhe der Wertschwankungsreserven und des angebrachten technischen Zinses. Würde man die freie Wahl der Pensionskasse für den Sparprozess den Versicherten übertragen, fielen diese Diskussionen weg, und die Sozialpartner könnten sich stärker auf ihre Kernaufgaben zurückbesinnen. Dazu zählen Fragen im Zusammenhang mit dem Rekrutierungs- und Weiterbildungsbedarf oder dem Umgang mit älteren Mitarbeitern, zum Beispiel infolge der Digitalisierung der Arbeitswelt oder der Veränderungen, die durch die Covid-19-Pandemie verursacht werden.
Sind diese Punkte geklärt, ist es Aufgabe der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter, die resultierende Personalpolitik zu definieren – dazu gehört auch die Gestaltung der Vorsorgelösung. Das wäre eine Stärkung, keine Schwächung der Sozialpartnerschaft.
Langfristige Sicherung der 2. Säule
Manche mahnen, dass Individualisierungsmöglichkeiten die Unterschiede der 2. Säule (die obligatorische kollektive berufliche Vorsorge) und der 3. Säule (individuelle und freiwillige Vorsorge) verwischen. Diese Kritiker unterschlagen aber gerne die schleichende «AHV-isierung» der beruflichen Vorsorge. Hier lauert ein viel grösseres Risiko. Aufgrund der zu hohen Umwandlungssätze fliessen jährlich 7 Milliarden Franken von Aktiven zu Rentnern. Das entspricht jährlich rund 1700 Franken pro Versichertem. Statt das eigene Kapital aufzubauen, um eine solide Rente zu sichern, müssen die Jungen laufende Renten finanzieren. Das ist nichts anders als eine Umlagekomponente, wie sie nur in der 1. Säule – der AHV – vorgesehen ist. Auch sind Angriffe auf das ersparte Kapital der Versicherten politisch salonfähig geworden. Das Kapitalbezugsverbot bei der Pensionierung oder bei der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit sind kein Tabu mehr.
Statt Individualisierungsmöglichkeiten einschränken zu wollen, sollte man sie ausbauen. Die freie Wahl der Pensionskasse würde die Mitarbeiter daran erinnern, dass das Vorsorgekapital ihnen gehört: nicht der Kasse, nicht dem Arbeitgeber und auch nicht dem Staat. Mehr Möglichkeiten, die berufliche Vorsorge nach den eigenen Bedürfnissen zu gestalten, sind der beste Garant gegen die drohende Überführung der 2. Säule ins Umlageverfahren.
Dieser Beitrag ist in der redaktionellen Beilage zum Thema Vorsorge und Krankenkasse in der «Sonntagszeitung» vom 18. Oktober 2020 erschienen.