Beobachter: Wenn Sie an Ihre Schulzeit zurückdenken: Was haben Sie fürs Leben gelernt?
Patrik Schellenbauer: (lacht) Ich habe gute Erinnerungen an die Schule, aber ich war auch ein guter Schüler. In meiner Schulzeit, das war in den 1970er-Jahren, war die Schule noch konservativ geprägt. Der Lehrer war eine Autoritätsperson, und sein Wort hatte Gewicht.
Und heute?
Lehrerinnen und Lehrer sind heute genauso Sozialmanager wie Didaktiker. Früher reichte es – salopp gesagt – Frontalunterricht zu erteilen und die Welt zu erklären. Heute ist die Schulwelt viel komplexer geworden, die Ansprüche sind ungleich höher: Einerseits die Ansprüche der Schüler und vor allem der Eltern, aber auch jene von Gesellschaft und Wirtschaft.
Genau diese Ansprüche will der Lehrplan 21 erfüllen. Er soll die Schüler besser auf die moderne Welt vorbereiten.
Die Zeit ist tatsächlich gekommen für eine kantonsübergreifende Bildungsreform. Allerdings ist der Lehrplan 21 sehr detailliert geraten. Zu detailliert. Dies ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass er vornehmlich von Experten erarbeitet wurde, die meinen zu wissen, was für alle gut ist. Aber die Volksschule, die ja eine Klammer der Gesellschaft sein will, ist immer auch eine politische Angelegenheit. Und man erlebt doch einige Überraschungen, wenn man das Dokument liest.
Ein Beispiel?
Im Modul «Medien und Informatik» werden als Kompetenzen aufgeführt, dass die Kinder in der Lage sein sollen, ein elektronisches Gerät ein- und auszuschalten. Das kann doch heute praktisch jedes Kind im Kindergartenalter – auch fernab der Städte.
Die Anwendung von Wissen und Kompetenzen, die im Lehrplan propagiert wird, ist falsch?
Nein, diese Grundidee ist doch lobenswert! Es ist tatsächlich besser, sich Kompetenzen in Mathematik oder Deutsch anzueignen, als alle Schweizer Flüsse auswendig zu lernen. Diese können jederzeit bei Google gesucht werden. Aber die Kompetenz, wie dieses Wissen zu verwerten ist – das muss gelernt werden. Leider hat man diese löbliche Grundidee ziemlich weit ausgestaltet.
Während der Primarschule bin ich vom Kanton Glarus in den Kanton Zürich gezogen. Ich wäre froh gewesen, hätte es damals schon einen einheitlichen Standard gegeben.
Sie konnten diesen Rückstand doch offensichtlich aufholen. Es gerät zunehmend in Vergessenheit, dass das Erfolgsmodell Schweiz zu einem grossen Teil auf dem Föderalismus basiert. Angewendet auf die Bildung: Es ist ein grosser Vorteil, wenn ein Kanton selbständig vorangehen oder gar vorpreschen kann, wenn er eine Idee hat und Neues ausprobieren möchte. Wenn es gelingt, dann können andere Kantone nachziehen – wenn nicht, dann scheitert nur ein Kanton, und nicht alle gleichzeitig. Der Wettbewerb unter den Kantonen sollte als Labor funktionieren. Das könnte die Qualität der Schule und der Bildung viel mehr fördern, als dies heute der Fall ist. Wir müssen uns nun überlegen, wie der föderalistische Bildungswettbewerb im Rahmen des Lehrplans 21 erhalten werden kann.
Dieser Wettbewerb sorgt im Gegenteil für ein Ungleichgewicht. Schüler in Zürich werden besser ausgebildet als solche in Glarus. Das soll sich mit dem Lehrplan 21 ändern.
Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Gerade kleine und entlegene Kantone können viel flexibler agieren als die grossen. Sie können sich, wenn sie geschickt sind, einen Standortvorteil erarbeiten. Und vielleicht wollen ja die Glarner einfach nicht das exakt gleiche Bildungsmenü wie die Zürcher. Was soll daran schlecht sein?
Welche Kompetenzen fehlen im Lehrplan 21?
Die Volksschule hat sich in der Digitalisierung einen grossen Rückstand eingehandelt. Sie hat die Digitalisierung verschlafen! In Deutschland gibt es Informatik teilweise ab der 5. Klasse, auch Italien und Frankreich sind diesbezüglich fortschrittlicher. Es ist zwar ein Fortschritt, dass «Medien und Informatik» nun als fächerübergreifendes Modul im Lehrplan 21 steht. Bezeichnenderweise liegt das Schwergewicht aber auf Medien und deren Nutzung. Das spiegelt eine Grundhaltung zu digitalen Themen an vielen Schulen: Digitale Medien sind problematisch, und deren Nutzung muss in Bahnen gelenkt und reguliert werden. Dabei bräuchte es Informatik – und nicht Medienkunde! – als reguläres Schulfach, in dem die zentrale Kompetenz des 21. Jahrhunderts gelernt wird. Damit meine ich nicht, dass die Schüler auf einem iPad herumtippen, sondern dass sie verstehen, nach welchen Prinzipien und nach welcher innerer Logik diese Maschinen funktionieren.
Sollen die Schüler ein iPhone zerlegen?
Nein, aber die Schüler könnten beispielsweise eine Schildkröte in einer kindergerechten Umgebung programmieren. Das wäre doch spannend und sogar lustvoll. So lernen sie, wie aus Codes etwas Lebendiges wird. Es geht darum zu verstehen, nach welchen Prinzipien und innerer Logik Computer funktionieren. Dieses Wissen ist heute ebenso zentral wie Mathematik oder Deutsch. Und es gibt ein Missverständnis: «Digital Native» bedeutet nur, dass die Generationen Y und Z virtuose Anwender sind, aber nicht, dass sie verstehen, wie Apps eigentlich funktionieren. Es braucht also Informatik als Schulfach, und nicht iPads als Schulmittel. Wir können uns nicht vor der Digitalisierung fürchten, weil sie uns angeblich die Jobs raube, und gleichzeitig Informatik an der Volksschule für überflüssig halten. Das geht nicht zusammen.
Und welche Kompetenzen können stattdessen weggelassen werden?
Es geht nicht ums Weglassen, sondern ums Anpassen. Denken wir beispielsweise an die Geometrie: Ich kenne kein Land in Europa, das so viel Gewicht auf Geometrie legt wie die Schweiz. Natürlich ist räumliches Vorstellungsvermögen wichtig. Doch sind wir ehrlich: Das Fach Geometrie könnte man doch reduzieren und dafür Informatik als Regelfach einführen.
Ich hätte jetzt eher erwartet, dass Fächer wie Haushaltskunde oder Werken verzichtbar sind.
Wie viel diese Fächer im späteren Leben wirklich helfen und ob die Vermittlung von Haushaltskunde überhaupt in den Aufgabenbereich der öffentlichen Schule gehört, ist unvoreingenommen zu diskutieren. Diese Fächer haben aber starke Lobbys, die Anpassungen des Lehrplans an die digitalen Lebenswirklichkeiten verhindern.
Was ist mit den Fremdsprachen?
Der Sprachenstreit in der Schweiz ist in erster Linie emotional. Es ist nicht nachvollziehbar, warum alle Kantone hier dasselbe machen müssen. Wenn die Thurgauer beschliessen, dass ihre Schüler erst in der 7. Klasse Französisch lernen, dann ist das keine Staatskrise. Zudem gibt es keine wissenschaftliche Evidenz, die besagt, dass Schüler, die schon in der 5. Klasse mit «Bonjour» und «Salut» beginnen, später besser französisch können als solche, die in der 7. Klasse damit anfangen.
Französisch ist immerhin eine Landessprache.
Natürlich. Ich sage nicht, man soll auf Französisch verzichten. Französisch als Landessprache ist ebenso wichtig wie Englisch. Aber es spielt keine Rolle, in welchem Alter damit begonnen wird. Die Zukunft der mehrsprachigen Schweiz hängt nicht an dieser Frage.
Wo sehen Sie die Volksschule in 20 Jahren?
Für die Volksschule wird es immer schwieriger, die zunehmenden Erwartungen zu erfüllen. Die Gesellschaft differenziert sich immer mehr in Milieus aus, die jeweils ihre eigenen Werthaltungen und Lebensentwürfe haben. Das hat Auswirkungen auf die Schule, sie wird mit immer mehr und mit immer unterschiedlicheren Anforderungen und Ansprüchen konfrontiert. Sie kann es aber nicht allen gleichzeitig recht machen, darum einigt man sich oft nur noch auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Wir müssen aufpassen, dass es nicht zum Stillstand kommt. So erklärt es sich auch, warum es so schwierig ist, Informatik als Schulfach einzuführen. Und genau hier kommt wieder der Wettbewerbsgedanke ins Spiel: Stellen Sie sich vor, ein kleiner Kanton würde heute mutig vorpreschen, würde Informatik in der Mittelstufe einführen und wäre damit erfolgreich. Andere Kantone kämen in Zugzwang und würden bald folgen.
Dieses Interview ist am 23. Februar 2017 auf der Website der Zeitschrift «Beobachter» erschienen. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.