«Ich bin keine Autorität, ich bin ein Fragensteller, und ich bin unsicherer als je zuvor.» Mit diesen bescheidenen Worten eröffnete der amerikanische Historiker Jonathan Steinberg seine Ausführungen zur Lage der Schweiz. Der Professor der Universitäten von Pennsylvania und Cambridge (England) arbeitet zurzeit an der dritten Ausgabe seines erstmals 1976 publizierten Bestsellers «Why Switzerland?» und präsentierte seine Thesen an einem Brown-Bag-Lunch bei Avenir Suisse. Ein Teilnehmer an der Veranstaltung meinte, «Why Switzerland» sei nach wie vor für jeden, der die Schweiz verstehen wolle, ein Standardwerk, weil es die vielen Besonderheiten des Landes historisch fundiert erkläre.
Eine Lösung wird gefunden – irgendwann
Auf den ersten Blick scheine es, als habe sich die Schweiz von heute gegenüber den 1970er-Jahren von Grund auf geändert, sagte Steinberg, der in den letzten Monaten viele Interviews mit Schweizern führte und dabei mehrere Eindrücke sammelte: Eine zunehmende Polarisierung des Landes, die sinkende Popularität der Mitteparteien, der zunehmende Missbrauch des Initiativrechts, der – wie auch in anderen Ländern – angeschlagene Ruf der Eliten, die sinkende Bereitschaft für Milizdienst und die Angst des Mittelstands vor dem wirtschaftlichen Abstieg.
Die gute Nachricht sei jedoch, dass die vielen guten Seiten der Schweiz weiterhin Gültigkeit hätten: Erstens würden die wichtigen politischen Ämter nur für ein Jahr besetzt – und niemand könne sich an die Macht gewöhnen. Zweitens sei die Schweizer Verwaltung aus der Sicht eines Ausländers nahezu perfektionistisch. Drittens habe der Bundesrat gegenüber den meisten ausländischen Regierungen den Riesenvorteil, dass er nicht parteipolitisch entscheiden müsse.
Wohltuend überrascht habe ihn, dass praktisch alle Interviewpartner trotz der allgegenwärtigen Unsicherheit eine optimistischen Ausblick gewagt hätten. Auch mit der EU finde sich eine Lösung – irgendwann einmal. Dieser Mut zur Lücke, zum Bewusstsein, dass Lösungen oft nur in der langen Frist gefunden werden können, ist für Steinberg ein zentrales Charakteristikum der Schweiz.
Zerbrechlichkeit als Basis des Föderalismus
Dass sich in der Schweiz nur wenig – und wenn, dann langsam – ändert, führt der Historiker auf den Föderalismus zurück, der seit je den sprachlich und kulturell stark unterschiedlichen Gruppen ein friedliches Auskommen ermögliche. In der Diskussion stimmte Steinberg auch der Aussage zu, die Schweiz sei quasi der einzige Restbestand des Heiligen Römischen Reiches, das genauso dezentralisiert organisiert gewesen sei und sich deshalb auch nie zu einem Nationalstaat entwickelt habe.
Vieles in der Schweiz lasse sich durch ihre Kleinheit und ihre Zerbrechlichkeit erklären. Dass das Land immer von Grossmächten umzingelt gewesen sei, habe die Kompromissbereitschaft in der Innenpolitik gefördert, getreu dem Ausspruch von Benjamin Franklin: «If we don‘t hang together, we shall surely hang separately.» Und ein kleiner Staat in den unwegsamen Alpen ohne Rohstoffe und mit teuren Transportwegen habe wirtschaftlich nur auf einen grünen Zweig kommen können, indem er sich über die Fertigungsqualität seiner Güter und mittels Innovation von den Mitbewerbern abgehoben habe.
«Aber braucht es den Sonderfall heute noch?», lautete ein kritisches Votum aus dem Publikum. «Ja», fand Steinberg. Nur schon die Tatsache, dass es die Schweiz geschafft habe, die letzten 150 Jahre ohne Krieg zu überleben, sei ein Beweis für die Qualität ihrer Institutionen. Wo sonst finde man zum Beispiel noch Münzen, die seit mehr als hundert Jahren in Umlauf seien? Die Entscheidung vom 9. Februar interpretierte er denn auch nicht als Ausdruck von Nationalismus, sondern vielmehr als Ablehnung der Art und Weise, wie die Institutionen in der EU funktionierten – und als ein Eintreten für die in der Vergangenheit und bis heute erfolgreichen eigenen Strukturen.