Am Schweizer Nationalfeiertag, dem 1. August, wird jeweils von Festrednern aller politischer Couleur mit stolz geschwellter Brust ein Hohelied auf den Schweizer Föderalismus gesungen. Verwiesen wird auf den helvetischen Staatsaufbau mit dem Subsidiaritätsprinzip, was eine möglichst bürgernahe Aufgabenerbringung zwischen den drei Staatsebenen ermöglichen soll. «Unten» in den Gemeinden werde so die gedeihliche Entwicklung der Kommunen selbstverantwortlich vorangetrieben, «oben» in Bundesbern sei man sich der institutionellen Aufgabenteilung stets bewusst.
Innovation durch Wettbewerb
In der Tat: Wird der Föderalismus institutionell ermöglicht und politisch gelebt, legt er dank seinem systemimmanenten Wettbewerbsprinzip grosse Innovationskräfte frei. Doch die politischen Ambitionen von Mandatsträgern in Bund und Kantonen wenden sich immer mehr ab von der dezentralen (kantonalen und kommunalen) Entscheidungsverantwortung hin zu einem fast zentralstaatlich anmutenden Denken.
Anstatt sich für schweizweit variable Ansätze in Politikgestaltung und Lösungsfindung zu engagieren, gilt zunehmend die Maxime, eine uniforme Politik von Romanshorn bis Genf durchzusetzen. Man scheint zu vergessen, dass Föderalismus Unterschiede – ja mitunter auch Ungleichheit – zulassen soll, damit die Präferenzen der lokalen Bevölkerung besser berücksichtigt werden können. Heute interveniert die Bundespolitik munter in Politikbereiche, die auch verfassungsmässig klar in die Zuständigkeit der Kantone fallen. Damit gehen neben einem Verlust an Vielfältigkeit erhebliche Kostenfolgen für den Staatshaushalt – und die Steuerzahlenden – einher.
Ein Scheck über 700 Millionen Franken
Ein frappantes Beispiel zeigt sich in der laufenden Session der Eidgenössischen Räte: Neu soll der Bund flächendeckend 20 Prozent der Kosten übernehmen, wenn Eltern ihre Kinder auswärts betreuen lassen. Das Parlament stellt damit mit einem Federstrich einen Scheck von über 700 Millionen Franken aus – jährlich. Auch bei Prämienverbilligungen greift der Bund regelmässig tief in die Schatulle, obwohl auch hier originär die Kantone zuständig sind.
Trotz dem Inkrafttreten der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) vor 15 Jahren sind weiterhin Zentralisierungs- und Verflechtungstendenzen zu konstatieren. Sie schränken die Handlungsautonomie der Kantone und damit auch der nachgelagerten Gemeinden stetig ein. Neu ist, wie diese Zentralisierungstendenz sich in der Schweizer Politikgestaltung beschleunigt und wie wenig Widerstand die Kantone dagegen leisten. Teils wird diese Entwicklung von den Kantonen gar aktiv befürwortet und eingefordert (siehe Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur oder Erlass von Covid-Massnahmen). In den kantonalen Rathäusern scheint es wichtiger zu sein, dass die Bundeskasse bisherige kantonale Aufgaben zukünftig (mit-) finanziert, und weniger von Belang, dass damit eine markante Beschneidung eigener Entscheidungskompetenzen einhergeht.
Vorschnell gibt man von kantonaler Ebene zunehmend auch bundespolitischen Bestrebungen nach, bei denen eine offensichtliche Verletzung der originären Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen vonstatten geht, selbst wenn es die Einnahmeseite betrifft. Besonders stossend ist die Umsetzung der OECD-Steuerreform. Von den von der Politik allseits erwarteten Mehreinnahmen an Kantonssteuern soll ein Viertel in die Bundeskasse gehen. Lange stand im Raum, ob gar 50 Prozent der kantonalen Mehreinnahmen an den Bund fliessen sollen, um die Umverteilungspolitik unter der Bundeshauskuppel mit dem nötigen Betriebsstoff zu versorgen.
Finanzdirektoren auf Abwegen
Als willfährige Helfer dieser Zentralisierungspolitik erweist sich zur Überraschung aller ausgerechnet die kantonale Finanzdirektorenkonferenz – eigentlich konzipiert als Gralshüterin des Steuerwettbewerbs. Nur gerade die vom neuen monetären Transferregime Richtung Bundeshaus hauptsächlich betroffenen Kantone Basel-Stadt und Zug leisten lauthals Widerstand. Doch selbst der Präsident der Finanzdirektorenkonferenz, Vertreter eines Hochsteuerkantons, verkündet öffentlich, dass nach Wegen zu suchen sei, um die Tiefsteuerpolitik seiner Nachbarkantone zu sanktionieren. Die fiskalische Autonomie der Kantone und damit eine auf Kompetitivität ausgerichtete Steuerpolitik für Unternehmen und Privatpersonen soll also zukünftig eingeschränkt werden – föderalistischer Systemwettbewerb sieht definitiv anders aus.
Die Beweggründe sind einleuchtend: Föderalismus ist mitunter anstrengend, vor allem für die politischen Verantwortungsträger in den Kantonen. Hat man Kompetenzen und Verantwortung, kann das kantonale Stehenbleiben im gelebten Wettbewerbsföderalismus mittelbar in eine Abseitsposition münden. Doch statt dem Bund Kompetenzen abzutreten oder vermehrt Aufgaben im Verbund mit dem Zentralstaat auszuüben, braucht es vielmehr eine Revitalisierung des Wettbewerbs – strukturell, politisch und mental. Ansonsten wird der Föderalismus immer mehr ausgehöhlt und durch zentralstaatliche Ansätze abgelöst – allen 1. August-Reden und Verfassungsbestimmungen zum Trotz.