Panorama: In welchem Zustand befindet sich die Schweiz derzeit?
Gerhard Schwarz: Die Schweiz ist in der schwierigen Situation, dass es ihr unglaublich gut geht. Sie hat die Krise besser überstanden als praktisch alle anderen Länder. Sie ist nicht nur wirtschaftlich ganz weit oben, sondern auch bezüglich Lebensqualität.
Das ist doch grossartig!
Wenn es einem – relativ zu allen anderen gesehen – sehr gut geht, wird man träge und selbstzufrieden. Ich spreche von Wohlstandsverwöhnung und meine damit das, was man auch bei Kindern erlebt: Ein verwöhntes Kind schätzt nicht mehr das, was ihm alles geboten wird. Ähnlich ist es mit der Schweiz, die sehr verwöhnt ist. Typisch für diese Selbstzufriedenheit ist die ausgeprägte Wachstumsskepsis in unserem Land.
War Angst vor dem Zuzug leistungswilligerer Ausländer ein Grund für die Annahme der Massen-einwanderungsinitiative?
Nein. Die Schweiz ist eines der offensten Länder weltweit, nicht nur in Europa. Die Annahme hat aus meiner Sicht viel eher mit unserer Wachstumsmüdigkeit zu tun, mit der Haltung: «Diese ganze Zuwanderung macht uns vielleicht ein bisschen reicher, ist aber mit Kosten wie höheren Mieten, mehr Verkehr und vor allem Zersiedelung verbunden. Wenn für uns, die ansässige Bevölkerung, unter dem Strich nur ein halbes Prozent Wachstum pro Kopf und Jahr herausschaut, lohnt es sich nicht, diese Nachteile in Kauf zu nehmen.» Mit anderen Worten geht es vielen in diesem Land so gut, dass ihnen dieser Preis für ein halbes Prozent mehr Wachstum zu hoch ist.
Angst vor Überfremdung spielte aber auch eine Rolle.
Die Schweiz balanciert zwischen Weltoffenheit und Abschottung. Was wie ein Widerspruch erscheint, ist gerade wegen des hohen Ausländeranteils fast logisch. Weil so viele Ausländer ins Land kommen, werden sie eher nüchtern als überschwänglich aufgenommen. Die Devise lautet: «Du kannst bei uns arbeiten, aber Du musst Dich anpassen!» Der Integrationsdruck ist zumal in der Deutschschweiz relativ hoch.
Haben Sie diesen Integrationsdruck als gebürtiger Österreicher zu spüren bekommen?
Ja, aber für mich als Vorarlberger war die Anpassungsleistung nicht besonders schwierig. Was hingegen für mich, als ich zum Studium nach St. Gallen kam, neu war, war dies: In Vorarlberg waren über 90 Prozent Katholiken. Protestanten waren eine kleine Minderheit, akzeptiert und praktisch kein Thema. St. Gallen war damals ein Kulturkampf-Kanton. Die Stadt war gespalten zwischen Katholiken und Protestanten. Eine St. Galler Freundin erklärte mir damals genau, welches Geschäft katholisch und welches protestantisch war. Das fand ich erschreckend.
Der Grad der Toleranz schwindet mit der Grösse der Minderheit?
Gegenüber kleinen Minderheiten ist es leicht, grosszügig und tolerant zu sein. Gegenüber sehr grossen Zuwanderungsgruppen gibt es, wenn man die eigene Identität bewahren will, dagegen nur zwei Strategien: Entweder man grenzt sich stark ab oder man verlangt weitgehende Anpassung. Man könnte natürlich auch eine starke Durchmischung und als Folge davon eine neue Identität anstreben, aber das ist ein schwieriger Prozess.
Wie soll die EU aus Ihrer Sicht mit der Schweiz nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative umgehen?
Ich habe das Gefühl, die EU ist schon lange hin und her gerissen in ihrem Umgang mit der Schweiz. Ginge es nur um ökonomische Interessen, müsste die EU alles daran setzen, auf dem bilateralen Weg weiterzugehen, und sie müsste sehr offen sein für Kompromisse. Schwierig sind die neuen Mitgliedsländer. Viele sind der EU nicht mit Begeisterung beigetreten. Sie mussten einige Kröten schlucken. Und dann sehen sie die Schweiz, die diese Kröten nicht schlucken, aber sehr wohl von der EU profitieren will. Das empfinden manche als ungerecht.
Die Schweiz wird von ihren europäischen Kritikern gern als Rosinenpickerin dargestellt.
Den Vorwurf des Rosinenpickens halte ich für geradezu unanständig oder zumindest für unbedarft. Verträge sind keine Geschenke! Sie sind das Ergebnis von harten Verhandlungen. Ich war immer der Meinung, die Schweiz sollte mit finanziellen Leistungen zum Kollektivgut Europas beitragen, damit ja nicht der Eindruck des Rosinenpickens entsteht. Das macht sie.
Sie plädieren also für einen Fortbestand des bilateralen Weges?
Ja, denn diese Verträge sind ein gutes Konstrukt für die Schweiz. Sie kann viele ihrer Interessen einbringen, ohne ihre autonome Entscheidungsfähigkeit völlig aufzugeben. Deshalb sollte man diese Verträge nicht unnötig gefährden.
Die Schweiz steht vor schwierigen Verhandlungen mit der EU. Könnten ihr die Zügel hier ebenso aus der Hand gleiten wie in den Verhandlungen mit den USA über das Bankgeheimnis?
Diese Gefahr besteht. Die Schweiz erhielt im Kalten Krieg politisch ein überproportional grosses Gewicht. Das führte zu einer gewissen Selbstüberschätzung: Uns kann nichts passieren, wir sind ein souveränes Land. Was für eine Illusion! Wir sind ein kleines Land, und kleine Länder können nur in einem begrenzten Ausmass selbst bestimmen. Es braucht immer die Grosszügigkeit, ja Gönnerhaftigkeit der grossen Länder, diese Selbstbestimmung zuzulassen. Wenn sie das nicht tun, ist der Handlungsspielraum der Kleinen beschränkt. Wir haben das sehr schmerzhaft erlebt: Datenlieferungen an die USA und automatischer Informationsaustausch. Die Mehrheit der Schweizer wollte beides nicht.
Hat sich Ihr Verhältnis zu den Banken geändert seit der Finanzkrise?
(überlegt lange) Ich habe nirgends ein Konto abgezogen, weil ich immer schon an die Devise «don’t put all your eggs in one basket» geglaubt und selbst kleinere Beträge immer auf mehrere Banken verteilt habe. Und rational weiss ich um die zentrale Bedeutung der Banken für eine Volkswirtschaft. Aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass meine emotionale Wertschätzung für den Beruf des Bankiers nicht gelitten habe.
In einem Ihrer Bücher fordern Sie eine Rückkehr zu freiwilligem tugendhaften Verhalten. Ist das nicht naiv?
Diesen Vorwurf kann ich nachvollziehen. Aber ich frage Sie: Was ist die Alternative? Regulierung ist die Alternative! Es gibt nur die beiden Alternativen: Entweder wir regulieren uns zu Tode oder wir finden zu einem Verhalten zurück, das stärker als bisher von einem freiwilligen moralischen Kompass gelenkt wird.
Woher soll der Kompass denn kommen, wenn dieselben Leute am Ruder sind?
Wir alle sind tugendhaft geworden auch durch Erfahrung, nicht nur durch das Vorbild der Eltern. Die soziale Akzeptanz der gesamten Finanzbranche hat enorm gelitten. Das ist ein Lehrgeld, das manchen dazu bringen könnte, sein Verhalten zu ändern.
Wie viel ist denn ein Manager wert?
Wert ist keine objektive Grösse, sondern sehr subjektiv. Es gibt keinen objektiven Wert für die Leistung von Personen. Die Frage ist, wie viel produziert er an Mehrwert, das ist besonders bei Kollektivleistungen schwierig zu messen.
Anders gefragt: Soll ein Manager 200-mal mehr bekommen als ein einfacher Angestellter?
Wenn es uns als Gesellschaft stört, ist nicht der Arbeitsmarkt der Ort, irgendwelche Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Der richtige Ort, um das auszugleichen, ist meines Erachtens die Steuerpolitik. Hier können wir als Gemeinschaft entscheiden, wie viel wir wegbesteuern wollen – mit allen Konsequenzen, die das geben kann.
Als Journalist mussten Sie den Status quo analysieren, als Direktor von Avenir Suisse müssen Sie in die Zukunft denken. Was machen Sie lieber?
Ich habe als Journalist bereits genügend Zeit und Platz gehabt, über den Tag und die Woche hinauszudenken. Das mache ich bei Avenir Suisse jetzt mit einem etwas weiteren Horizont und mit noch mehr Vertiefung. In diesem Sinne sind das zwei Seiten einer ähnlichen Medaille, die mir viel Freude bereitet.
Dieser Artikel erschien im Raiffeisen Kundenmagazin «PANORAMA» im September 2014. Mit freundlicher Genehmigung der Raiffeisen Schweiz Genossenschaft.