Wir leben in der Welt der Grossmächte. Das spürt auch die Schweiz. Auch wenn sie als relevanter Finanzplatz und als Drehscheibe vieler Handelsströme nach wie vor eine wichtige Rolle in der Weltwirtschaft innehat, ist sie als politischer Akteur doch ein Zwerg. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sie viel von ihrer Bedeutung als neutrale Vermittlerin eingebüsst. Sie ist vermutlich eine der grossen Verliererinnen des Endes des Kalten Krieges. Der Druck der Grossstaaten folgte rasch. Und es wird zunehmend schwierig, sich dagegen zu wehren. Die Schlagworte sind bekannt: Bankendeal mit den USA, Fatca, automatischer Informationsaustausch, institutionelle Regeln mit der EU und so fort.
Wäre dies alles für die Bewohner der Schweiz nicht Grund genug, die Kleinheit als Fluch und die Integration in die EU als Segen zu betrachten? Ist der «Sonderfall Schweiz» ein Auslaufmodell, das mehr Leiden als Stolz erzeugt? Böte die aktive Partizipation der kleinen Schweiz nicht die Möglichkeit, im grossen Stil Einfluss zu nehmen?
Wer dies bejaht, unterliegt wohl einer Selbstüberschätzung, die sich die Schweiz nicht leisten sollte. Das Gewicht des Kleinstaates bleibt klein, auch wenn er Teil eines grossen Ganzen ist. Statt an der Kleinheit zu leiden, sollte die Schweiz deshalb die Vorzüge der Kleinheit sehen und pflegen. In der Kleinheit liegt auch Stärke. Das zeigt sich allein schon am wirtschaftlichen Erfolg vieler Kleinstaaten. Von den Grossen schafft es in den Ranglisten von Wettbewerbsfähigkeit und Lebensqualität kaum einer unter die ersten zehn.
Der Kleinstaat Schweiz bietet viele Vorteile: Föderalismus und direkte Demokratie sorgen für Bürgernähe, sie führen zu einer besseren Legitimation von politischen Entscheidungen, und sie reduzieren das Schadenspotenzial von Fehlentscheidungen. Die direkte Demokratie lässt sich in Kleinstaaten ohne Zweifel besonders gut praktizieren. Und Ähnliches gilt für die Neutralität, die noch heute einen kostbaren Wert darstellt.
Bei aller Betonung der spezifischen Stärken des Kleinstaates Schweiz muss man aber darauf achten, dass man den «Sonderfall Schweiz» nicht statisch interpretiert und zu sehr glorifiziert. Die Schweiz muss also ihre positiven Eigenheiten weiterentwickeln, wenn sie eine erfolgreiche Zukunft haben soll. Nur sollte man Weiterentwicklung keineswegs mit Anpassung an den globalen Mainstream gleichsetzen und verwechseln. Dazu drei Beispiele:
- Eine der grossen Besonderheiten der Schweiz ist ihr genossenschaftliches Staatsverständnis, ihr Aufbau von unten nach oben. Das erst macht sie zur «Willensnation». Eigenverantwortung, Milizprinzip, Kooperation und Konkordanz resultieren daraus und stehen Pate für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz. An diesem Erfolgsfaktor sollte man also festhalten. Will man ihn aber in die Zukunft retten, muss man ohne Tabus über Reformen nachdenken, etwa über Möglichkeiten, wie man die gelegentlich an Selbstzerfleischung gemahnende Auseinandersetzung zwischen verschiedenen politischen Lagern beenden könnte ohne den Subsidiaritätsgedanken und die Basisdemokratie zu gefährden.
- Gleichzeitig gilt es die direkte Demokratie, dieses einzigartige System politischer Entscheidungsfindung, vor einer «Vergewöhnlichung» zu retten. Initiative und Referendum sollten nicht zur Blockade politischer Prozesse, als Wahlkampfvehikel oder zur Emotionalisierung der Bevölkerung missbraucht werden können. Deshalb braucht es höhere Hürden für diese Instrumente.
- Der Schutz von Privatsphäre und Eigentumsrechten ist von zentraler Bedeutung für das, was die Schweiz im internationalen Wettbewerb heraushebt, also im wahrsten Sinne des Wortes hervorragend positioniert: Verlässlichkeit, Stabilität und Seriosität. Das sehr reaktive, von viel Opportunismus und wenig Grundsatztreue geprägte Nachgeben beim Bankgeheimnis hat üble Kratzer an diesem Bild der Verlässlichkeit hinterlassen. Es wäre ein verheerendes Signal, wenn, dem internationalen Mainstream folgend, das Bankkundengeheimnis auch im Inland abgeschafft würde.
Als Kleinstaat wird man nicht durch Anpassung, durch Aufgehen im grösseren Verband Erfolg haben, sondern nur durch Differenzierung. Die Schweiz muss daher alles daran setzen, als Standort attraktiv zu sein, innovativ zu bleiben, ihre dem Fortschritt dienende Offenheit zu bewahren und ihrer liberalen Wirtschaftsordnung Sorge zu tragen. Als Hort der «Minderheitsmeinung» umspült von einem grossen, globalen Mainstream kann ein kleines Land nicht nur punkten – es hat auch eine wichtige Rolle zu spielen für andere Länder, als Benchmark, als Inspiration und vielleicht gelegentlich auch als Stachel.