Europa soll digitaler werden. Dafür müssen im europäischen Raum Hürden abgebaut werden, welche die digitale Wirtschaft bei Innovationen und Handel bremsen.
Die Strategie für einen digitalen Binnenmarkt (DSM), welche genau dies ermöglichen soll, wurde 2015 vom damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker ins Leben gerufen. Zur Strategie gehört ein Paket von innovations- und handelsfördernden Massnahmen. Dabei will die EU Regeln der digitalen Wirtschaft im europäischen Wirtschaftsraum harmonisieren und Handlungsfelder zur Förderung der Digitalisierung bestimmen. Die Massnahmen umfassen Bereiche wie Cybersicherheit, freier Datenverkehr oder Konsumentenschutz. Sie reichen von allgemeinen Richtlinien wie ethischen Grundregeln für die künstliche Intelligenz bis zu konkreten Gesetzen wie der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Zum Beispiel debattieren die EU-Institutionen darüber, welche Verantwortung Online-Mittler wie Youtube oder TikTok in Bezug auf den geposteten Inhalt ihrer Plattformen haben.
Die Rolle der Schweiz als Drittstaat
Welche Rolle spielt die Entwicklung dieses digitalen Binnenmarktes für die Schweiz, der wichtigsten EU-Handelspartnerin? Hinzu kommt die kulturelle und soziale Vernetzung mit den EU-Mitgliedstaaten; eine Vernetzung, die durch die Digitalisierung und den Zugang zum Internet neue Dimensionen angenommen hat. Für die Schweiz ist es von Interesse, an diesem digitalen Wirtschaftsraum, aber auch der Forschung nach neuen Technologien teilnehmen zu können.
Der letzte offizielle Bericht des Bundes zur Strategie der Schweiz in Bezug auf den DSM stammt von 2019. Darin betonen die involvierten Bundesämter, dass viele der bereits verabschiedeten oder geplanten DSM-Regulierungen für die Schweiz relevant sind und es je nach Bereich einen Dialog, eine Assoziierung oder gar ein bilaterales Abkommen bräuchte. Mittlerweile hat sich diese Situation durch die gescheiterten Verhandlungen eines Rahmenabkommens mit der EU akzentuiert, denn Updates von alten Abkommen und sowie das Schliessen von neuen wurde damit erheblich erschwert. Dabei sollte die Schweiz insbesondere in folgenden Bereichen den Anschluss nicht verpassen.
Bereiche von aktuell besonderer Bedeutung für die Schweiz
Onlinehandel: Ein wesentlicher Teil der DSM-Strategie dreht sich um den Onlinehandel. Zum Beispiel sollen die Regeln für Online-Kaufverträge modernisiert werden, um den Zugang zu digitalen Inhalten zu fördern und den Onlinehandel zu vereinfachen. Konsumentinnen bestellen vermehrt Produkte und Dienstleistungen über digitale Plattformen. Für sie spielt dabei immer weniger eine Rolle, aus welchem Land das bestellte Produkt zu ihnen nach Hause geliefert wird oder wo die Dienstleistung erbracht wird.
Unternehmen können dank vereinfachtem Onlinehandel einfacher in den ganzen EU-Raum verkaufen. Eine Umfrage der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) von 2020 zeigt, dass etwa ein Viertel der Schweizer Onlinehändler ins Ausland exportiert. Dass diese Zahl nicht höher ist, liegt unter anderem an den Zollhürden. Auch für ausländische Onlinehändler ist es unattraktiv, in die Schweiz zu liefern. Dies beschränkt das inländische Warenangebot und hält das inländische Preisniveau hoch – zum Nachteil der Konsumenten. Ein Abkommen könnte diese Situation entschärfen. Verhandlungen sind jedoch aufgrund des fehlenden Rahmenabkommens blockiert.
Verbot von Geoblocking: Früher erhielten Personen aus unterschiedlichen EU-Ländern zwar dasselbe Produkt im gleichen Online-Shop, aber zu unterschiedlichen Preisen. Diese Praxis, die durch das sogenannte Geoblocking ermöglicht wird, hat die EU im Rahmen der DSM seit Dezember 2018 verboten. Die EU-Verordnung über Massnahmen gegen ungerechtfertigtes Geoblocking und andere Formen der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit verpflichtet Händler, Online-Käufer aus anderen EU-Mitgliedstaaten wie einheimische Konsumenten zu behandeln. Sie müssen ihnen Zugang zu gleichen Preisen oder Verkaufsbedingungen gewähren.
Das Verbot hat keine Auswirkungen auf Schweizer Käuferinnen, da sie nur auf dem europäischen Binnenmarkt anwendbar ist. Allerdings gelten die Regeln für Schweizer Anbieter, die innerhalb der EU tätig sind. Es existieren daher unterschiedliche Bedingungen für Unternehmen und Konsumenten in der Schweiz und der EU. Eine Anwendung wäre mit einem Abkommen zu klären, dies könnte nun ebenfalls blockiert sein. Somit bleibt dies für Schweizer Konsumenten weiterhin ein Problem, während Schweizer Unternehmen sich in der EU anpassen müssen.
Anpassung des Datenschutzes: Ein Dauerthema der digitalen Wirtschaft ist der Datenschutz. Der Dienstleistungssektor macht in der Schweiz vom gesamten Aussenhandel 30 Prozent aus. Vor allem dort sind Daten zentral. Die Regeln für den Datenschutz, die in der Schweiz gelten, müssen für einen reibungslosen Handel mit jenen der EU kompatibel sein. Die EU hat 2018 ihre Datenschutzrichtlinie angepasst – bekannt als GDPR (General Data Protection Regulation). Auf Basis dieser Richtlinie darf die EU-Kommission entscheiden, ob Nichtmitgliedstaaten einen angemessenen Schutz gewährleisten. Entscheidet die Kommission, dass dies der Fall ist, können personenbezogene Daten ohne weitere Schutzmassnahmen von der EU (und Norwegen, Liechtenstein und Island) in den Drittstaat – zum Beispiel die Schweiz – fliessen.
Das Schweizer Datenschutzgesetz wurde zuletzt im Jahr 2000 als äquivalent eingestuft. Da die EU ihre Richtlinie angepasst hatte, musste die Schweiz das Gesetz auch anpassen, um weiterhin anerkannt zu werden. Dies wurde 2020 erledigt; das Inkrafttreten wird wohl frühstens Mitte 2022 stattfinden. Es bleibt allerdings offen, ob die EU das Gesetz anerkennen wird. Verweigert sie die Anerkennung, droht Schweizer Unternehmen die Verarbeitung kundenbezogener Daten aus der EU untersagt (oder zumindest erschwert) zu werden. Die starke digitale Vernetzung der Schweiz mit der EU führte deshalb bereits dazu, dass viele Schweizer Unternehmen sich an die GDPR angepasst haben, damit sie weiterhin Konsumenten aus der EU beliefern können.
Forschung und neue Technologien: Um die Weiterentwicklung des digitalen Binnenmarktes voranzutreiben, soll im kommenden Jahr ein Teil der Forschungsgelder für Horizon Europe – rund vier Milliarden Euro – in die Weiterentwicklung neuer Technologien investiert werden. Zudem hat die Europäische Kommission das komplementäre Förderprogramm Digital Europe gestartet, das sich konkret an die Digitalisierung richtet. Damit sollen strategische Fördergelder in die Entwicklung von Supercomputing, künstlicher Intelligenz, Cybersicherheit, bessere digitale Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger und eine grössere Verbreitung digitaler Technologien in Gesellschaft und Wirtschaft fliessen. Das Budget: 7,5 Milliarden Euro. Von einer Teilnahme könnte vor allem die Schweiz profitieren; schliesslich wurde sie im Juni 2021 von der EU-Kommission zum innovativsten Land Europas erkoren. Auch hier bleibt jedoch die Schweiz aufgrund des fehlenden Rahmenabkommens aussen vor. Nicht zuletzt, da die Schweiz von der EU im Forschungsprogramm Horizon Europe als nichtassoziierter Drittstaat eingestuft wurde.
Nicht nur für den Forschungsstandort Schweiz ist es von Interesse, an diesen Entwicklungen teilnehmen zu können. Für die Schweiz ist es auch wichtig, bei den Debatten über neue Regeln nicht isoliert zu sein. Wie bereits beim Online-Handel gilt auch hier: Durch die starke wirtschaftliche Vernetzung der Schweiz und der EU profitiert die Schweizer Wirtschaft und die Bevölkerung davon, wenn die Regeln der EU und der Schweiz im Einklang stehen. Dies gilt sowohl für ethische Richtlinien künstlicher Intelligenz wie auch für Standards von Cybersicherheit. Schweizer Unternehmen, die in den EU-Raum exportieren beziehungsweise auch dort tätig sind, müssen sich an die EU-Regeln halten. Eine Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU in solchen Fragen ist nicht zuletzt auch geopolitisch sinnvoll. Man beachte dabei zum Beispiel Projekte wie eine Europäische Cloud-Lösung zur Speicherung von Daten.
Schlechte Rahmenbedingungen
In vielen Bereichen können sich Schweizer Unternehmen – anders als beim Datenschutzgesetz – nicht eigenständig an die Regeln der EU anpassen. Zum Beispiel im Bereich der Entwicklung von 5G oder einer elektronischen Identität braucht es nationale Lösungen, die kompatibel sind mit jenen der EU. Doch in beiden Bereichen geht die Entwicklung in der Schweiz nur schleppend voran. Einerseits wird die Telekommunikationstechnologie 5G durch kantonale und regionale Moratorien gebremst, anderseits hat das Stimmvolk die Vorlage zur Gesetzesgrundlage einer e-ID kürzlich an der Urne versenkt.
Der Abbruch der Verhandlungen um ein Rahmenabkommen mit der EU hat eine Teilnahme am digitalen Handel und an der Forschung verkompliziert und teils gar verhindert. Der mindestens vorübergehende Ausschluss aus dem Forschungsprogramm Horizon Europe ist nur ein Beispiel dafür. Es ist unter diesen Umständen umso mehr zu begrüssen, dass die Bundesverwaltung bereits im Jahr 2019 in ihrem Bericht zur DSM festhielt, dass man weiterhin im Dialog mit der EU bezüglich neuer Regulierungen stehen will. Im damaligen Bericht rechneten die Verfasser damit, dass in den Jahren 2021/22 einige der neuen Regulierungen der EU in Kraft treten würden. Entscheidend ist nun also, dass die Schweiz diesem Auftrag des Dialogs nachkommt und nicht ins Hintertreffen gerät.