Von linker Seite ist man sich die Klagelieder über einen zu intensiven, ja angeblich «ruinösen» Steuerwettbewerb gewohnt, der nur wenige Gewinner (die Reichen) und viele Verlierer (alle anderen) kenne. Ein sogenanntes Race-to-the-Bottom wird befürchtet und moderne Finanzausgleichssysteme als Katalysator dafür betrachtet, da sie auf Zweckfreiheit der Transfers ausgelegt sind. So schlug die SP Schweiz im Rahmen des letzten Wirkungsberichts zum NFA (neuer Finanzausgleich auf Bundesebene) vor, ihn um Leistungsstandards zu ergänzen. Hinter ein simples Grundangebot an Leistungen dürfe kein Kanton zurück, lautete die Forderung von SP-Präsident Levrat, der scheinbar davon ausgeht, gewisse Kantonsregierungen erhöben über die Köpfe der völlig unmündigen Stimmbürger hinweg zu deren Nachteil zu niedrige Steuern und gefährdeten damit die Finanzierung besagten «simplen Grundangebots». Diese Forderung steht im Widerspruch zu föderalistischen Idealen und hätte – eine Staatsebene tiefer – eine (weitere) Schwächung der Gemeindeautonomie zur Folge.
Der Einfluss des Medianwählers
Steuerwettbewerb kann der Gesamtwohlfahrt nur dann abträglich sein, sprich: zu einem «zu» niedrigen Leistungsangebot und einer «zu» niedrigen Steuerbelastung führen, wenn mit der Senkung der Leistungen bzw. der Steuerbelastung negative externe Effekte verbunden sind – Kosten oder Nachteile also, die der agierende Kanton bzw. die agierende Gemeinde nicht selbst zu tragen hat. Das mag in Agglomerationen mit einer Kernstadt-Umland-Problematik teilweise der Fall sein, flächendeckend aber eher nicht. Nun könnte man immer noch behaupten, der Steuerwettbewerb maximiere zwar die Gesamtwohlfahrt, führe aber zu ungerechten Ergebnissen (die Reichen profitierten von der geringen Steuerbelastung, die Armen litten unter dem tiefen Niveau öffentlicher Leistungen). Auch dieses Argument überzeugt nicht, ganz im Gegenteil: Gemäss Public-Choice-Ansatz wird die Steuerbelastung und der Umfang des öffentlichen Angebots durch den Medianwähler bestimmt. Weil sein Einkommen unter dem Durchschnitt liegt, und sein Steueraufkommen dank progressivem Steuersystem sogar weit unter dem Durchschnitt, wird er ein eher hohes Leistungs- und Steuerniveau wählen, da er zwar von den Leistungen profitiert, jedoch nur einen sehr geringen Teil der Steuerbelastung trägt. Der Steuerwettbewerb hilft, die Fehlwirkungen dieser ungünstigen Konstellation zu verkleinern.
Dreiteiliger Staatsaufbau bremst Steuerwettbewerb
Einige institutionelle Voraussetzungen der Schweiz werfen sogar die Frage auf, ob der Steuerwettbewerb überhaupt als Disziplinierungsinstrument der öffentlichen Verwaltungen auf kommunaler Ebene greift:
- Sogar unter Ausschluss der Wirkungen des Finanzausgleichs lohnt sich eine Senkung der Steuerbelastung für die öffentliche Hand finanziell erst, wenn der prozentuale Zuwachs an Steuersubstrat gegenüber dem Status quo grösser ist als der prozentuale Rückgang der Steuerbelastung. Ökonomisch ausgedrückt, muss die Steuerfusselastizität grösser als 1 sein, damit eine Senkung des Steuerfusses zu einem Anstieg der Steuererträge führt.
- Wenn von kommunalen Steuerfussunterschieden die Rede ist, geht oft vergessen, dass die Belastung durch die Gemeindesteuern nur einen Teil der Gesamtbelastung durch direkte Steuern (und einen noch kleineren Teil der totalen steuerlichen Belastung) ausmacht. Mit einer Steuerfusssenkung von 100 auf 50 Punkte könnte eine Gemeinde darum nie und nimmer eine Halbierung der Steuerbelastung erreichen: Bei einer Kantonssteuer von 100 Punkten und einer Bundessteuer im Gegenwert von 50 Punkten resultierte daraus bloss noch eine Gesamtentlastung um 20% (nämlich von 250 auf 200 Punkte), während sich der effektive Steuerertrag der Gemeinde tatsächlich halbierte. Damit diese Reduktion um 20% zu einer Verdoppelung des Steuersubstrats führt, damit sich die Massnahme also langfristig nicht negativ auf den Fiskalertrag der Gemeinde auswirkt, wäre eine Elastizität von mindestens 4 nötig. Die vertikale Fragmentierung eines Staates in Gebietskörperschaften verschiedener Ebenen (Kantone, Gemeinden) hat auf den Steuerwettbewerb – und auch auf den Standortwettbewerb im Allgemeinen – eine klar bremsende Wirkung. Sogar bei einem vollständigen Verzicht auf jeglichen Ressourcenausgleich sind also erhebliche Zweifel an der «race-to-the-bottom»-Theorie angebracht.
Finanzausgleich erlaubt theoretisch Ausklinken aus Steuerwettbewerb
Hier erst setzt dann zusätzlich noch die Wirkung des Finanzausgleichs ein: Unabhängig davon, ob die effektiven Steuererträge überhaupt gewachsen sind, wird jeglicher Anstieg der Steuerkraft (harmonisierter Steuerertrag pro Kopf) zu einem gewissen Anteil durch den Rückgang von Zuschüssen aus dem Finanzausgleich (ressourcenschwache Gemeinden) oder den Anstieg von Beiträgen an den Finanzausgleich (ressourcenstarke Gemeinden) zunichte gemacht. Bei ressourcenschwachen Gemeinden betragen diese «Grenzabschöpfungsquoten» oft 100%.
Mit Steuerfusssenkungen oder Investitionen in ihre Attraktivität schiesst sich eine ressourcenschwache Gemeinde somit immer ins eigene Knie, denn ein möglicher Anstieg ihrer Steuerkraft wird 1:1 durch den Wegfall von Finanzausgleichszahlungen zunichte gemacht, die sicheren Einbussen durch die Steuerfussenkung bzw. den Mehraufwand für die Investitionen muss sie jedoch ganz alleine tragen. Bei einer Grenzabschöpfung von 100% zahlt sich eine Steuerfusssenkung (zumindest aus Sicht der Einnahmenmaximierung) demnach nie aus. Bei einer Grenzabschöpfung von 75% wäre im obigen Beispiel eine Steuerfusselastizität von 16 nötig, damit sich eine Senkung des Steuerfusses lohnt, bei einer Grenzabschöpfung von 50% müsste die Steuerfusselastizität immer noch mindestens 8 betragen. Neueste empirische Untersuchungen gehen aber von einer Steuerelastizität von maximal 1 bei natürlichen Personen und maximal 4 bei juristischen Personen aus.
Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in der Publikation «Irrgarten Finanzausgleich – Wege zu mehr Effizienz bei der interkommunalen Solidarität».