Der französische Schriftsteller und Gelehrte Ernest Renan (1823 – 1892) betonte in seinem berühmten Vortrag «Was ist eine Nation?» bereits Ende des 19. Jahrhunderts, dass sich ethno-kulturelle Merkmale wenig eignen, um zu definieren, was Nationen sind. Dies bestätigt sich in der Schweiz mit ihren verschiedenen Kultur- und Sprachräumen exemplarisch.
Doppeldeutige Definition
Renans Nationen-Definition ist doppeldeutig: Er beschreibt eine Nation als geistiges Prinzip, das seine Kraft aus der Vergangenheit schöpft und sich in die Zukunft hinein aktualisiert: Eine Nation bilde sich erstens aufgrund «gemeinsamer geschichtlicher Erfahrungen», die dadurch geprägt sind, dass in einer Solidargemeinschaft gemeinsame «Anstrengungen» zur Erreichung bestimmter Ziele aufgewendet wurden. Zweitens basiere sie auf dem Willen, ein gemeinsames Zukunftsprojekt zu verfolgen. Mit dieser Aussage prägte er den Begriff der Willensnation.
Nationaler Zusammenhalt, soziale Kohäsion und Wohlstand für alle ergibt sich demzufolge aus der Bereitschaft der Bevölkerung, sich für das Gemeinwesen einzusetzen. Soziale Kohäsion ist ein partizipatorisches öffentliches Gut. Ein Gut, von dessen Vorteilen wie Stabilität und Sicherheit alle profitieren, das aber nur existiert und genossen werden kann, wenn sich eine hinreichende Anzahl von Bewohnern eines Staates bereit erklärt, sich dafür aktiv einzusetzen. Der Nutzen steigt, je mehr Menschen sich daran beteiligen.
Genossenschaftlicher Gedanke
Die politische Kultur der Schweiz ist seit Jahrhunderten geprägt vom genossenschaftlichen Gedanken gegenseitiger Hilfe und Zusammenarbeit. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich ärmere Kantone keine grössere Verwaltung leisten konnten und auch nicht über eine spezialisierte, professionelle Elite für diese Aufgaben verfügten. In den Kantonen füllten die Kleingesellschaften diese Lücke, indem sie sich mit gegenseitiger Hilfe und Selbstverwaltung zu helfen wussten. Im Wallis zum Beispiel gab es gemäss dem Volkskundler Arnold Niederer die Einrichtung des «Gemeinwerks» mit dem Zweck, dass jeder Einwohner einige Tage oder Wochen im Jahr für gemeinsame Einrichtungen der Gemeinde arbeitete. Im Milizwesen der Armee und der Politik hat sich diese republikanische Idee des aktiven, am Staat direkt beteiligten Bürgers bis heute erhalten.
Das Milizwesen steht aber aus diversen Gründen unter Druck. So sind zum Beispiel immer weniger Leute bereit, ein politisches Amt zu übernehmen. Würde diese Entwicklung schliesslich zum Aussterben des Milizsystems führen, ginge damit ein Teil der gesellschaftlichen und politischen Kultur der Schweiz verloren. Das im Nationalbewusstsein tief verankerte Milizwesen fungiert als Gegengewicht zur marktwirtschaftlich orientierten, distanzierten Expertenschweiz und fördert den sozialen Zusammenhalt kreuz und quer durch alle Gesellschaftsschichten.
Keine Zuschauerdemokratie
Das politische Milizsystem baut die Distanz zwischen dem Staat und seinen Bürgern ab und ergänzt die demokratischen Instrumente des Stimm- und Wahlrechts. Die Staatsgewalt soll nicht in den Händen einer distanzierten Elite liegen, sondern direkt durch die Bürger ausgeübt werden. Die Bevölkerung nimmt dank des politischen Milizsystems nicht nur die Rolle des Zuschauers ein, der mittels Stimmabgabe die Staatsangelegenheiten steuert oder die politische Verantwortung auf bestimmte Repräsentanten überträgt. Sie kann selber tätig werden und Verantwortung übernehmen. Dadurch wird einerseits der Sinn für die Politik und das politisch Machbare gefördert, andererseits einer Entfremdung des Volkes von der Politik entgegengewirkt.
Indem Mitbürgerinnen und Mitbürger aus unterschiedlichen Landesteilen und sozialen Milieus in Milizorganisationen zusammentreffen und gemeinsame Aufgaben bewältigen, wird der soziale Austausch angeregt, der Gemeinsinn und der nationale Zusammenhalt gestärkt – mit Wirkung über die eigentliche Dienstzeit hinaus. Dies führt dazu, dass Diensterlebnisse auch zwischen sich unbekannten Personen ein verbindendes Element und Gesprächsthema sein können.
Gelegentlich führen Dienstbekanntschaften zu einer gesellschaftlichen Vernetzung, die für die weitere berufliche Laufbahn nützlich sein kann. Allerdings wurde dieser positive Aspekt des militärischen Milizwesens durch die Globalisierung relativiert. Ausserdem wird der Militärdienst aufgrund vergangener Armeereformen in jungen Jahren und über einen relativ kurzen Zeitraum geleistet, was die Möglichkeiten für berufliches Networking zusätzlich einschränkt. Würde sich der Bürgerdienst nach dem Modell von Avenir Suisse wieder über einen grösseren Zeitraum erstrecken, wäre mit einer Wiederbelebung solcher Netzwerkeffekte zu rechnen.
Breitere Partizipation ist fairer
Von den erbrachten Milizleistungen profitiert die gesamte Schweizer Wohnbevölkerung. Gegenwärtig ist aber nur ein kleiner Teil dienstpflichtig. Im militärischen Milizwesen sind dies die jungen Männer mit Schweizer Staatsangehörigkeit. Nutzen und Lasten sind also ungleich verteilt. Ein Dienst zugunsten der Gesellschaft müsste jedoch von allen getragen werden: Männer wie Frauen, Junge und Alte, aber auch Ausländerinnen und Ausländer sollten sich aktiv beteiligen (können). Insbesondere durch den Einbezug niedergelassener Ausländer könnte auf kommunaler Ebene die Rekrutierungsbasis für politische Ämter verbreitert werden.
Die Schweiz versteht sich traditionellerweise als eine Solidargemeinschaft. Ein allgemeiner Bürgerdienst, in den breitere Bevölkerungsschichten als heute einbezogen sind, würde dieses Selbstverständnis stärken und erneuern.
Dieser Beitrag ist Teil der Publikationsreihe «Miliz heute».