Während die Mittelschichten der westlichen Industrieländer in den letzten zwei Jahrzehnten teils unter Druck gerieten, war gerade diese Periode global gesehen die erfolgreichste Phase für die Mittelschicht in der Menschheitsgeschichte. So schätzt der indische Ökonom Surjit Bhalla, dass der Anteil der Mittelschicht an der Weltbevölkerung zwischen 1990 und 2012 von einem Drittel auf 57% gewachsen ist und damit erstmals mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmacht (siehe Abbildung). Grund für den sozialen Aufstieg vieler ehemals in Armut lebender Menschen in den Schwellenländern war die Globalisierung.
Bhalla zufolge durchleben wir derzeit die dritte Periode in den letzten 200 Jahren, in denen die Mittelschicht weltweit stark gewachsen ist. Den ersten Schub gab es im 19. Jahrhundert, in dem eine Mittelschicht in den westlichen Industrieländern entstand – einhergehend mit dem Ende des Feudalismus, der industriellen Revolution und der Verstädterung. Eine zweite Wachstumsphase, ebenfalls primär in der westlichen Welt, kam mit dem Wirtschaftsaufschwung und dem Baby Boom nach dem Zweiten Weltkrieg. Die dritte Phase ist der aktuell zu beobachtende Aufstieg der Mittelschicht in den Schwellenländern als Folge der Globalisierung.
In China stieg der Anteil der Mittelschicht an der Bevölkerung zwischen 1990 und 2005 schätzungsweise von 15% auf 62%. In Indien steht der grosse Wachstumsschub noch bevor. Gemäss Berechnungen des National Councils for Applied Economic Research wird der Anteil der Mittelschicht an der indischen Bevölkerung innerhalb von 20 Jahren von 5% (2005) auf über 40% (2025) zunehmen (The Economist 2009). Der wirtschaftliche Aufstieg dieser beiden Länder, in denen zusammen ein Drittel der Weltbevölkerung lebt, ist entscheidend für den weltweiten Aufstieg der Mittelschicht. Der Aufstieg der Mittelschicht in den Schwellenländern ist eng verbunden mit der Stagnation der westlichen Mittelschicht, ausgelöst etwa durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen.
Um der grossen Differenz bei den Lebenshaltungskosten zwischen Industrie- und Schwellenländern Rechnung zu tragen, vergleicht Bhalla die Einkommen auf Basis von Kaufkraftparitäten. Zur Mittelschicht zählt er Personen, deren Einkommen über dem gewichteten Durchschnitt der Armutsgrenze westlicher Länder liegt und das Zehnfache dieser Grenze nicht übersteigt. Gemessen in US-Dollar (Stand 2006) entspräche dies einem Einkommen zwischen rund 10 und 100 Dollar pro Person und Tag (Bhalla 2007). Diese Definition weicht von jener ab, die Avenir Suisse im Buch «Der strapazierte Mittelstand» zur Analyse des Schweizer Mittelstands verwendet hat (die mittleren 60% der Einkommensverteilung), scheint jedoch für einen globalen Vergleich zweckmässig.
Grund für den sprunghaften Anstieg der Mittelschicht in den Schwellenländern ist nicht nur der wirtschaftliche Aufstieg dieser Länder, sondern auch die Form der Einkommensverteilung: Diese hat die Form einer schiefen Glocke – die meisten Einkommen liegen auf ähnlicher Höhe, während die Häufigkeit nach oben kontinuierlich und nach unten abrupt abnimmt. Erreicht nun die Höhe dieser vielen ähnlichen Einkommen (der Bauch der Glocke) eine bestimmte Schwelle, befindet sich die Mehrheit der Menschen auf einen Schlag in der Mittelschicht. Dieser Effekt erklärt das starke Wachstum der globalen Mittelschicht in den vergangenen 20 Jahren.
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