Der Begriff «Milizsystem» existiert bezeichnenderweise nur in der Schweiz. Dieses beruht auf der republikanischen Vorstellung, dass ein jeder Bürger mit den entsprechenden Fähigkeiten neben- oder ehrenamtlich öffentliche Ämter und Aufgaben übernehmen sollte. Es ist geprägt vom Idealbild des «uomo universale» aus der Renaissance. Jeder Laie ist befähigt, mitzutun. Der schweizerische Milizstaat setzt freiwilliges Engagement voraus; die Bürger dürfen sich als Kollektiv nicht auf eine Zuschauerrolle zurückziehen. Dieses republikanische Modell, wie es Gottfried Keller vorschwebte und vom Bürger wie selbstverständlich freudige Beteiligung erwartete, ist in der Krise. Das Engagement im Milizsystem steht in Konkurrenz zur Freizeitgesellschaft mit ihrem vielfältigen Angebot. Jüngere Studien zur Freiwilligenarbeit zeichnen ein eher düsteres Bild. Den Parteien geht die Basis verloren, sie haben immer grössere Mühe, geeignete Kandidaten zu finden. Individualisierung und globalisierte Arbeitswelt haben zur Folge, dass die Bereitschaft zu Milizarbeit sinkt. Kleinere Gemeinden fühlen sich durch die zunehmende Verrechtlichung und mediale Aufmerksamkeit schnell einmal überfordert. Weil Arbeits- und Privatwelt heute stark ineinandergreifen, wollen viele Bürger nicht auch noch der Miliz- und Freiwilligenarbeit Platz in ihrem Leben einräumen. Der Aufwand für ein längerfristiges Engagement in Vereinen erscheint ihnen angesichts sinkender Wertschätzung zu gross.
Ist das schweizerische Milizsystem zukunftstauglich oder verkommt es zu einem Mythos? Obwohl es offenkundig bröckelt, wird es gemeinhin idealisiert. Seine schwindende Bedeutung könnte das Schweizer Selbstverständnis empfindlich treffen, gilt das Milizsystem neben der direkten Demokratie und dem Föderalismus doch als zentraler Pfeiler des Staats.
Welche Schweiz wollen die Schweizer?
Was tun? Grundsätzlich sind drei Idealtypen einer zukünftigen Schweiz denkbar:
- Individualistisch-liberale, expertenorientierte Schweiz: Denkt man die gesellschaftlichen Trends weiter, weist alles in Richtung Professionalisierung und Angleichung an die Nachbarländer. Die Schweiz würde zum Normalfall, die Laienrepublik wäre Geschichte. Es entstünde eine Schweiz, in der der Staat seinen Bürgern ausser den Steuern fast keine moralischen und rechtlichen Pflichten mehr auferlegte. Die Staatsbürger würden in diesem Sinne vermehrt zu Staatskunden. Bei diesem Szenario wird das Milizsystem aufgegeben. Es erfolgt eine Professionalisierung, Entschädigungen werden erhöht. Wo nötig, werden Ämter zusammengelegt oder Gemeinden fusioniert, damit ein genügend hoher Aktivierungsgrad für eine Festanstellung erreicht wird.
- Gegenwärtiges Modell: Ausgangspunkt dieses Szenarios ist die Ansicht, dass die Teilnahmebereitschaft in Zukunft nicht drastisch abnehmen wird. Punktuelle Massnahmen und Korrekturen könnten dann genügen, um das Milizsystem zu erhalten – etwa durch kleinere Gremien, Gemeindefusionen, leicht höhere Entschädigungen oder innovativere Rekrutierung: Eine Politik der kleinen Schritte statt einer Revolution.
- Genossenschaftlich-liberale, republikanische Schweiz: Der Milizgedanke wird neu definiert, indem man den Republikanismus modernisiert, verbreitert und akzeptabler macht. Dem Gleichheitsprinzip aus der Aufklärung wird Nachdruck verschafft. Die Schweiz versucht, ihren spezifischen Bürgerstaat zukunftstauglich zu machen und so zu erhalten.
Warum die Schweiz auf Milizpolitiker angewiesen ist
Unabhängig von der Lagebeurteilung ist der vielfältige Reformbedarf im Milizsystem nicht zu übersehen. Die Teilnahmebereitschaft nimmt ab. Wenn dann auch noch die Qualität der Aufgabenerfüllung abnimmt, während die Anforderungen weiter steigen, würde das Milizsystem trotz Fortbestehen zu einem erfolgreich scheiternden System. Es würde überflüssig, und seine Aufgaben würden von der Verwaltung absorbiert – was weder der Volksnähe noch der Vertretung verschiedener gesellschaftlicher Interessen in den Behörden diente.
Das Milizsystem ist aber entscheidender Bestandteil des schweizerischen Staatsverständnisses. Es aktiviert das Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl, hält den Staat schlank und fördert die Nähe zu den Bürgern. Die wichtige Funktion des Milizsystems zeigt sich am stärksten in den kleinen Gemeinden: Von unten her würden bei einer Abschaffung des Milizsystems der Föderalismus und die Subsidiarität in Frage gestellt; wegen dem engen Zusammenhang mit dem Milizsystem würde indirekt auch die direkte Demokratie beschnitten, denn in einer «Zuschauerdemokratie» drohen Gemeinsinn, Kompromissfähigkeit und viel Wissen verloren zu gehen. Das Milizsystem sorgt dafür, dass sich die Bürger nicht als Zuschauer und Politik-Konsumenten zurücklehnen, sondern politisch aktiv sind und durch ihre Milizämter den Sinn für das Gemeinwohl weiterentwickeln.
Dass heisst nicht, dass die Schweiz durchwegs nebenamtlich betrieben werden sollte. Grössere Städte, Kantone und der Bund benötigen eine professionalisierte Verwaltung, zumindest in den Exekutiven braucht es Vollzeitpolitiker. Die Miliztätigen auf lokaler Ebene sind ein Bindeglied zur professionalisierten Politik. Oft sind es die Gemeindepolitiker, die Gemeinsinn und Verantwortungsgefühl verkörpern. Auch wenn die Bundesversammlung de facto ein Berufsparlament darstellt, ist es im internationalen Vergleich immer noch relativ schlank und effizient.
Dennoch, ohne Milizsystem stünde der Bürger dem Berufspolitiker nur als passiver Zuschauer gegenüber, wie es in den repräsentativen Systemen gang und gäbe ist. Gleichzeitig würde auch der direkten Demokratie der Boden entzogen. Eine direkte Demokratie ohne Milizgedanke verkäme zu einer Stimmungsdemokratie. Wäre das Milizsystem wegen mangelnder Teilnahmefähigkeit bedroht, ausgelöst durch zu hohe Anforderungen, müsste man auch die direkte Demokratie in Frage stellen, was wiederum komplexe Themen aufwirft. Gleichzeitig gilt: Ist das Milizsystem «nur» aus Gründen der Teilnahmebereitschaft bedroht, handelt es sich um ein durchaus lösbares Problem.
Eine allgemeine Dienstpflicht könnte das Milizsystem revitalisieren
Wie entwickelt sich das Milizsystem weiter? Vieles hängt von der Einschätzung der erwähnten Tendenzen ab. Eine kulturpessimistische Diagnose liefert die Niedergangsthese. Sie besagt, ähnlich der bekannten Analyse von Robert Putnam (1995) zum Niedergang des sozialen Kapitals in den USA, dass es zu einer Auszehrung der Bürgertugenden kommt, damit zum stetigen Verlust des «politischen Kapitals» und schliesslich zum Niedergang des Milizsystems. Das Gleichgewicht zwischen Bürgerrechten und wahrgenommenen Bürgerpflichten wäre unwiderruflich zerstört. Weniger pessimistisch ist ein Strukturwandelszenario respektive die Zyklenthese. Im ersten Fall bahnt sich ein Wandel zwischen den Tätigkeitsformen an, freiwillige Tätigkeiten werden vermehrt in anderen Bereichen ausgeübt. Im zweiten Fall wechseln sich Phasen mit grossem öffentlichem Engagement ab mit Phasen eines Rückzugs ins Private. Auch diese beiden Szenarien wären jedoch für das Milizsystem ungünstig, denn dieses verträgt Verschiebungen in den Beteiligungsformen oder eine zyklische «Beteiligungskonjunktur» gerade nicht. Milizbehörden können nicht einfach für eine gewisse Zeit geschlossen und wieder geöffnet werden.
Wenn man von dieser These ausgeht, ist die mangelnde Bereitschaft zur Ausübung von Miliztätigkeiten ein Problem. Denn der «Sonderfall Schweiz» beruht auch auf dem Engagement der Bürger. Somit steht das Land vor einem Grundsatzentscheid: Soll die gegenwärtige Organisation des Staates erhalten bleiben? Wenn Ja, müssen Bedingungen für das Weiterbestehen geschaffen werden. Dazu braucht es aber eine ernsthafte landesweite Debatte, ja vielleicht eine Volksabstimmung, die solches bewirken kann. Wenn die Existenzgrundlagen des Milizsystems in Gefahr sind, könnte eine allgemeine Dienstpflicht das Steuer herumreissen. Durch diesen Bürgerdienst wäre die Teilnahme am Milizsystem nicht nur für Männer im Militär Pflicht, sondern für alle Bürgerinnen, Bürger und niedergelassenen Ausländer. Dies würde durch eine Entscheidung der Bevölkerung festgelegt. Es wäre eine gemeinsame Entscheidung, den schweizerischen Republikanismus zu beleben und weiterzuleben. Dies wäre bei einer Krise des Milizsystems die einzige Lösung, die dessen Fortbestehen sicherstellen könnte. Die Schweiz als Willensnation würde gestärkt. Verschiedene Willenskundgebungen in Volksabstimmungen deuten darauf hin, dass das Volk dieses Ideal erhalten möchte, auch wenn der persönliche Beitrag nicht geleistet wird oder nicht geleistet werden kann.
Ein Bürgerdienst würde es Angestellten ermöglichen, Zeit für Miliztätigkeiten aufzuwenden. Auch die Frage der Teilnahmefähigkeit würde durch einen Bürgerdienst positiv beeinflusst. Denn paradoxerweise ist in der Schweiz, wo die Staatsbürger weitgehenden Einfluss nehmen können und sollen, das politische Interesse und Wissen der Jugendlichen besonders gering. Setzt sich dieser Trend fort, wird den Jugendlichen in letzter Konsequenz das Milizsystem mit seiner impliziten Forderung, aktiv zu werden, unverständlich. Deshalb sollte die Schweiz etwas tun, um die Teilnahmebereitschaft und Teilnahmefähigkeit zu fördern. Man kann nicht darauf vertrauen, dass politisches Interesse und politische Kompetenz im Lauf des Lebens spontan entstehen – dies wäre eine fahrlässige Wette. Durch eine staatsbürgerliche Pflicht könnte das Verständnis für die schweizerische Demokratie und das Milizsystem wieder gestärkt werden.
Der Beitrag wurde am 13.4.2015 unter dem Titel «Bürgerdienst als Neuauflage einer republikanischen Schweiz?» auf der Website der Schweizerischen Gesellschaft für Verwaltungswissenschaften (SGVW) publiziert.