Noch nie war ein Sozialwerk in der Schweiz so rasch geschaffen worden: nur drei Jahre von der Lancierung der Idee im Jahr 2018 bis zur Einführung. Es ging darum, eine Antwort zur Begrenzungsinitiative zu finden, die das Ende der Personenfreizügigkeit mit der EU verlangte. Und weil in Politik und Gesellschaft oft die Meinung vorherrscht, dass ältere Erwerbspersonen von der Zuwanderung aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden, einigte man sich auf die Einführung neuer Leistungen für ältere Arbeitslose – die sogenannten Überbrückungsleistungen (ÜL). Im September 2020 wurde die Begrenzungsinitiative an der Urne prompt verworfen. Die Überbrückungsleistungen hingegen bleiben.
Doch worum geht es bei diesen neuen, zu 100% durch Steuermittel finanzierten Leistungen? Im Unterschied zu den übrigen Sozialwerken, die die breite Bevölkerung schützen, sichern die ÜL ein ganz spezifisches Risiko ab: jenes der Aussteuerung aus der Arbeitslosenversicherung – und zwar ausschliesslich für die über Sechzigjährigen. Damit sollte den Ausgesteuerten bis zur Pensionierung ein Mindesteinkommen ohne Rückgriff auf die Sozialhilfe gewährt werden. Da sich die ÜL beitragsmässig an den Ergänzungsleistungen zur AHV/IV orientieren, garantieren sie meist ein höheres Einkommen als die Sozialhilfe. Die Differenz beträgt – grob geschätzt – rund 600 Franken pro Monat für einen Alleinstehenden.
Mangels Bezugsberechtigter vorläufig in Vergessenheit geraten
So schnell sie geschaffen wurden, so schnell drohen die Überbrückungsleistungen in Vergessenheit zu geraten – zumindest vorläufig. Mangels Bezugsberechtigter wurde der kühne Entwurf zum Papiertiger. Kaum 200 Personen haben sie zwischen Mai 2021 und Juni 2022 erhalten, nicht mal ein Zehntel der prognostizierten Zahl. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einerseits wurde während der Pandemie die Aussteuerung de facto sistiert, indem die Höchstzahl an Taggeldern der Arbeitslosenversicherung stark erhöht wurde. Mit der Erholung der Schweizer Wirtschaft hat dann die Zahl der älteren Langzeitarbeitslosen innerhalb eines Jahres bereits um ein Drittel abgenommen. Damit ist das Reservoir an potenziellen Empfängern deutlich eingeschränkt. Das vor einigen Jahren angekündigte Ende der Arbeit – insbesondere der Arbeit, die von älteren Erwerbstätigen entrichtet wird – lässt offensichtlich auf sich warten.
Aber es gibt auch strukturelle Gründe für die geringe Beanspruchung. Die Überbrückungsleistungen kommen wegen den restriktiven Bedingungen nur in wenigen Fällen zum Tragen. Obschon gemäss Schätzungen fast die Hälfte der 58-jährigen Erwerbstätigen für den späteren Bezug von Überbrückungsleistungen potenziell berechtigt wäre, sind weniger als ein Drittel der tatsächlich Ausgesteuerten bezugsberechtigt. Unter anderem müssen die Empfänger ein Mindesteinkommen von 21’000 Fr. pro Jahr in den letzten zehn Jahren ausweisen, was nur wenig Langzeitarbeitslose erreichen. Ausgerechnet jene, die früher eine Beschäftigungsfähigkeit gezeigt haben, erhalten eine Unterstützung, auch wenn sie die besseren Chancen auf eine Wiedereingliederung hätten. Anreize zur Wiedereingliederung sind kaum gegeben. Findet ein ÜL-Empfänger eine Stelle, reduzieren sich die Leistungen um 66 Rappen pro zusätzlich verdientem Franken, was einem impliziten Steuersatz von 66% gleichkommt.
Dürftiges Narrativ
Die Überbrückungsleistungen haben dazu verholfen, das Narrativ «alt und deshalb arbeitslos» zu zementieren. Sie haben dem Mythos, die Zuwanderung würde die Schwächeren vom Schweizer Arbeitsmarkt verdrängen, ein öffentliches Imprimatur gegeben. Die Realität ist aber eine ganz andere. Die Erwerbsquote der Schweizer Ü55 gehört heutzutage zu den höchsten der Welt. Vor kurzem wurde gar die 75-Prozent-Marke geknackt. Seit der schrittweisen Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU/Efta im Jahr 2002 hat die Quote um satte zehn Prozentpunkte zugenommen. Von der Verdrängung der älteren einheimischen Arbeitnehmer durch Zuwanderer kann keine Rede sein.
Politisch ist die Bilanz der ÜL ebenfalls durchzogen. Ohne sichtbare Gegenleistung konnten die Gewerkschaften den mehrheitlich bürgerlichen Bundesrat (und später auch das Parlament) für ein neues Sozialwerk gewinnen. Von einem einfachen Sieg euphorisiert, hüteten sich die Gewerkschaften später davor, auch die geringsten Konzessionen im Europa-Dossier zu machen. Das Rahmenabkommen hätte aber die Partizipation der Schweiz am zweitgrössten Binnenmarkt der Welt nachhaltig gesichert – und damit auch die Wachstumschancen für die Schweizer Wirtschaft erhöht. Das stellte immer die beste Arbeitsplatzgarantie dar.
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